Stumm schauten wir der endlosen Kette der gelben Busse zu. Der Schienenersatzverkehr passierte uns im 15-Sekunden-Takt: Mariendorf-Tempelhof und zurück. Z bewegte Schultern und Oberkörper, ihre Hände tanzten auf raumgreifenden Pfaden durch die Luft. Wir hatten uns verabredet, um ein paar Fotos für einen Simone-Bildes-Tribut für ihr Insta zu machen. Sie mit Salto mit Schraube, ich wollte helfen, indem ich in der Gegend stand.
Aber wir planten nicht. Sie hatte meinen Blick gesehen, der nicht zum Reden einlud. Ich seufzte: „Warum schreiben Menschen so anstrengende Sachen ins Internet? Warum lese ich das?“
Chaucer: Tales of Canterbury. Aus dem Ellesmere-Manuskript. |
Während ich auf Z gewartet hatte, hatte ich durch Twitter gescrollt. Immer mehr kam mir die Plattform vor, wie alte Menschen, die ihren Fernseher anschreien - immer aggressiv, nie komplett falsch, nie ganz richtig und sinnlos. Aufregung über Themen, die weit außerhalb der eigenen Wirkungs- und Kompetenzsphäre lagen.
„Nimm zum Beispiel die USA“, fing ich an. Ich wusste, dass Z - als Absolventin der University of Arkansas in Northern Mississippi - mich verstehen würde. „Ich ging in Mississippi zur Schule“, fing ich an, „Was Vorurteile angeht die USA der USA. Mississippi ist der Bundesstaat mit der ärmsten Bevölkerung, der niedrigsten Bildung, den meisten fundamentalistischen Christen, einem krassen Rassismus.
Und doch: Mississippi ist auch der Staat, in dem die Stadtregierung in der Hauptstadt Jackson gibt, die eine progressive Gesellschaft mit sozialistischen Wurzeln als Keimzelle einer sozialistisch-utopischen Region schaffen will. Oder meine persönlichen Erfahrungen: so furchtbar das Bildungssystem in vielerlei Hinsicht war: Von den sieben Lehrern, die mich in Mississippi unterrichteten hatte, waren drei herausragend. Eine Quote, die meine deutsche Schulen niemals erreichten.“
Inspiriert durch Blogposts von Herrn Rau und Poupous geheimen Laboratorium, dachte ich über Schullektüren nach.
Whan Zephirus eek with his sweete breeth
Die beiden herausragenden Schullektüren meines Lebens fanden beide bei Miss Thomas, in der 1. Stunde des Schultages an der Southaven High School statt. Ich fing an rezitieren:
When that April with his shoures soote
the droghte of March hath perced to the roote
And bathed every veyne in swich licour,
Of which vertu engendred is the flour;
Die „Canterbury Tales“. Berühmt als erstes literarisches Werk in Englisch. Ausgerechnet. Ein Gedicht in einer Sprache – mittelenglisch – die ich nicht spreche und nie sprach. Hat mich und die Mitschüler sprachlich komplett überfordert – selbst mit einer beigegebenen Übersetzung in modernes Englisch.
Chaucer: Prolog der Canterbury Tales, Hengwrt-Manuskript |
Die Sprache zog mich in ihren Bann. Und die Begeisterung von Miss Thomas zog mit. Die arme Miss Thomas war in ein rechtskonservatives Lehrkonzept gezwungen, aber ihrem Leuchten in den Augen, ihrem inneren Drang den Kindern die Welt der englischen Sprache näherzubringen, konnte das nichts anhaben.
Kein Wunder, dass meine zweite denkwürdige Lektüre im selben Klassenraum stattfand. „Macbeth“:
Double, double toil and trouble;
Fire burn, and cauldron bubble.
Fillet of a fenny snake,
In the cauldron boil and bake;
Eye of newt and toe of frog,
Wool of bat and tongue of dog,
Adder’s fork and blind-worm’s sting,
Lizard’s leg and owlet’s wing,
For a charm of powerful trouble,
Like a hell-broth boil and bubble.
Mit all seinen Schwierigkeiten. Wieder ein Stück bei dem mich die Sprache, zeitlich nicht weit weg vom Mittelenglischen, gefangen nahm. Vermutlich gibt es Literatur, die näher an der Lebensrealität von Jugendlichen in den US-Südstaaten ist als Klassiker der Plantagenet- und Tudor-Zeitalter. Aber auch: Die jugendliche Lebensrealität kannte ich als Jugendlicher ja schon. Für die brauchte ich keinen Unterricht.
Entscheidend war Miss Thomas. An der kurzen Leine ihres religiös-fundamentalischen Schoolboards gehalten, mit einer Uni-Schmalspurbildung, für die sie vermutlich von jedem deutschen Bachelor-Anglisten mitleidig belächelt würde. Und doch: Sie und ihre hängen gebliebenen Lektüren sind ein überzeugendes Beispiel dafür: Unabhängig von Konzept, pädagogischem Plan und System: Hochgradig entscheidend für den Lernerfolg sind die Lehrer.
Wenn ich anlässlich meiner Überlegungen auf meine deutschen Sprachlehrer höherer Klassen zurückblicke, lehrten die im Bereich zwischen „Mäh“ und „Okay.“ Die guten, mitreißenden Lehrer sind mir in anderen Fächern über den Weg gelaufen oder in Klassenstufen, in denen lange Lektüren nicht üblich waren. Was Schullektüre in Deutschland anging, war ich froh, wenn sie okay war. Angesichts meiner eher schlechten Erinnerungen an Schullektüren freuen sich alle Bücher, die ich mittlerweile vergessen habe.
That slepen al the nyght with open ye,
Irgendwas von Siegfried Lenz. Ich erinnere auf dem Klassenfernseher eine Theaterszene aus Effi Briest – was den Verdacht nahelegt, wir haben es gelesen. Im Unterricht eher schrecklich, auf eine Art aber faszinierend: die Beschäftigung mit Mozarts Entführung aus dem Serail in Musik. Ich bin mir sicher, dass nie ein Goethe vorkam. Borchert – Draußen vor der Tür? Würde auf jeden Fall zu meiner Erinnerung passend, dass wir in der 9/10. Klasse ausschließlich NS aufarbeitende Nachkriegsliteratur lasen. Dazu gehörte vermutlich auch Biedermann und die Brandstifter.
The droghte of March
Das Okaye ist das Gute, zumindest was die bewusst erinnerten Lektüren angeht.
The Prioress, Canterbury-Tales, Ellesmere-Manuskript |
Alfred Andersch – Sansibar oder der letzte Grund (8/9. Klasse?) – Die Erinnerungen sind blass. Es kamen Protagonisten vor, deren Handeln ich nachvollziehen konnte, deren Konflikte ich verstand, in einem realistischen Setting.
„Damals war es Friedrich“ (5/6. Klasse?) – Hat mich damals, glaube ich, bewegt. Traue mich inzwischen nicht mehr in die Nähe des Buches, weil ich Angst vor einer Kitschüberraschung hat. Zwischen den Schuljahren fünf und zehn beschäftigte sich die Hälfte der Schullektüren mit der NS-Zeit. Auf die Dauer wurde es anstrengend.
Ein Buch von Dürrenmatt (Physiker? Besuch der alten Dame?) (8./9. Klasse?) – Angesichts der bedeutungsschwer überladenen Deutschstunden, die ich normalerweise durchlebte, war hier ein Lufthauch, ein klarer Denker, sogar ein Ansatz von Humor.
Bertolt Brecht - Leben des Galilei (Oberstufe)– ein schönes Buch für eine Oberstufe, mit genug revolutionärem Anspruch für junge Menschen, doch inhaltlicher Tiefe und auf seine Art moderner und zeitgemäßer als vieles andere im Deutschunterricht. Brecht gehört zu den wenigen Autoren, die mir zu Zeiten der Schullektüre sympathischer waren als später beim Versuch, sie privat zu lesen.
Thrice and once the hedge-pig whined
Leider waren nur die wenigsten Bücher angenehm. Bei den meisten fragte ich mich: „Warum wir? Warum jetzt?“
The Summoner, Canterbury-Tales, Ellesmere-Manuskript |
Gaius Iulius Caesar, De Bello Gallico – (Latein, 10. Klasse) Die Lektüre fand zu einer Zeit statt, an der ich nach einem Lehrerwechsel dabei war, innerlich aus Latein auszusteigen; und dafür war es sprachlich zu anspruchsvoll.
Ein Asterix auf Latein. (Latein, 9. Klasse) Die Enttäuschung überhaupt. Selbst Asterix kann todlangweilig sein, wenn man eine unwillige Klasse im Schneckentempo mit Grammatikformdiskussionen durchprügelt.
Friedrich Schiller – Kabale und Liebe. (9./10. Klasse) Hat in mir erfolgreich eine lebenslange Abneigung gegen Schiller hervorgerufen. Spätere private Versuche mit den Räubern und Don Carlos brachten uns nicht wieder zusammen. Menschen mit der Charaktertiefe von Pappkameraden stehen herum und geben politische Verlautbarungen von sich. Auf seine Art hat Schiller Twitter vorweggenommen. Nicht nur, dass mir die Charaktere egal waren, ich habe eine Abneigung gegen komplett alle Personen entwickelt. Ein halbes Jahr lang.
Double, double, toil and trouble
Nachdem ich gedacht hatte, schlimmer als Kabale und Liebe kann es nicht werden, widerfuhr mir der Englisch-Unterricht in der Oberstufe.
Wir lasen das furchtbare Buch mit der Friseurin. Es handelte sich um eine modernisierte (sprich: 60/70er-Jahre-Flowerpower-Jugendbewegungsgestus) Nacherzählung von Pygmalion/My Fair Lady, in der ein Professor(?) versucht eine Friseurin für die Bildung zu gewinnen. Zumindest in der Interpretation meiner damaligen Englischlehrerin (Name glücklicherweise ebenso wie der Buchtitel vergessen) war es ein flammendes Plädoyer gegen die Bildung für die Ursprünglichkeit und gegen das Verkopfte - was die einzig zulässige Interpretation war.
Ein Plädoyer, dem sich Frau Lehrerin flammend anschloss. Leider hinterließ es nachhaltig den Eindruck, dass es gar nicht um das Buch ging. Es ging um die geschundene Kreatur vor der Tafel, die so gerne 24/7 auf Mallorca Sekt schlürfen würde, und doch von furchtbaren Büchern und anstrengender Sprachbildung an ihrer wahren Berufung gehindert wurde. Und die hoffte, mit Hilfe dieses Buchs, in den Schülern Verbündete in ihrem aussichtslosen Kampf gegen die Bildung zu finden.
Was als Schüler anstrengend war, sicher keine Bewunderung, nicht einmal Respekt für Lehrerin oder Buch aufkommen ließ.
Zumal das Buch seltsam war. Damals wusste ich nicht, dass ein Genre der Campus-Romane existiert, das vor allem existiert, damit sich ältere männliche Sprachdozenten in Romanzen mit jüngeren abhängigen Frauen hineinfantasieren. Rückblickend vermute ich, dieses Buch fiel in das Klischee.
Dazu die anbiedernde pseudo-Jugendsprache, die damals 20 Jahre überholt war und alles furchtbar.
Lehrer beim Versuch, jugendliche Sprache lesen zu lassen. |
Da lobte ich mir die Canterbury Tales und Miss Thomas. Da wahr klar, wo sie standen. Das war Bildungswillen at its best – und damit kam ich besser zurecht.
Z staunte „Das ist doch dreißig Jahre her. Dafür bist du sehr emotional.“ Damals langweilte ich mich. Wenn wir „jugendnahe“ Texte durchnahmen, hatte ich oft den Eindruck, die Lehrer versuchen eine innere Verbrüderung, die mir übergriffig vorkam. Jetzt, mit dem Abstand, einiger Jahrzehnte, denke ich: sowohl verschwendete Zeit. Spannende Sachen hätten wir lernen können. Und wir mussten vier Wochen lang zwei Absätze Dialog aus Kabale und Liebe lesen.
1 Kommentar:
Chaucer machte bei uns ein Referendar in der 11. Klasse. Höchstens eine Doppelstunde, und vermutlich war auch noch ein Teil Altenglisch dabei. Dennoch, ich lernte das auswendig (es war der Anfang des Nun's Priest's Tale), besorgte und las danach eine Neuenglisch-Übersetzung von The Miller's Tale (wegen A Whiter Shade of Pale). Im Studium beschäftigte ich mich dann ausführlicher mit Mittelenglisch. Warum? Und vor allem: War das für irgendjemanden, etwa eine Lehrkraft, absehbar?
Vermutlich sind das nur Angebote, und hoffentlich ist für alle etwas dabei, irgendwann mal. Aber ich glaube auch, dass viel von der Lehrkraft abhängt. Wobei manche Sachen bei manchen Menschen in einem bestimmten Alter wohl nie gehen.
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