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Montag, 26. Oktober 2020

AKAZIE – Cambio-Carsharing in Schöneberg

Stationsgebundenes Carsharing in Berlin-Schöneberg. Ein Abenteuer für den modernen Großstädter. Mit dem Ford Fiesta von Schöneberg nach Brandenburg und zu zurück.

Stazione di Milane Centrale. Ich stolperte damals verloren durch die Gegend. Mein gesammeltes Interrail-Geld 1993 in einer Plastiktüte, mit Stecknadel an der Unterhose befestigt. Ich hungrig, hatte gerade aus Versehen das gesamte Wochenbudget für einen Teller Reis in Vorspeisengröße in einem milaneser Restaurant ausgegeben. 

Silberner Ford Fiesta von Cambio-Carsharing geparkt auf einem Berliner Hof. Im Hintergrund eine alte Mauer.
Cambio-Ford-Fiesta, zwischengeparkt auf Schöneberger Hinterhof.


Dabei wollte ich, einmal in Italien sein, einmal Pasta essen! Etwas anderes. Nur drei Stunden in Italien, auf der Durchreise zwischen Ljubljana und Montpellier. Hungrig, erschöpft, unausgeschlafen und zu pleite. Ohne Spaghetti. Mit Reis. Nicht ahnend, dass ich gleich in den Nachtzug steigen würde, in dem mir ein südfranzösischer Taschendieb noch größere Teile des Reisebudgets entwenden wird. Aber Milano Centrale. La gente solo parla italiano. Tempo veloce! Mi non caspica nessuno. Voglio di partire subito. Anche io ho fame.

Verlorensein. Bis da dieser Schalter ist. Eine Schalterhalle alter Schule. Mit Glaswand, Holz, aufgereiht die Schalterbeamten. Und da dieser eine Schalter: Auf ihm prangen deutsche, französische, englische und spanische Fahnen. Ein multilingualer Fahrgastberater. Ich flüchtete verzweifelt zum Stand. Der Mann, ein Traum, spricht fließend deutsch. Kann mir ohne weiteres Nachsehen ein halbes Dutzend Zugvarianten zwischen Norditalien und Spanien aufzählen. Mit kurzem Blick ins Kursbuch informiert er mich, wo ich in Genua umsteigen muss. Er kennt den Weg über die Bahnsteige und gibt mir einen Tipp für guten Kaffee beim Halt in Monaco. Mon Ami!

Meine Gedanken verweilen im Mailand 1993 während mein Körper im Frühherbst 2020 die Berlin-Schöneberger Dominicusstraße entlang läuft. Alles nur, weil ich vorher die Krimischmonzette Mafia, amore e polizia gelesen hatte. Sie spielt 1993 in einem Zug von Hamburg nach Neapel. Die Schöneberger Bürgersteige sind breit. Dort entlangschlendern lässt Zeit zum Nachdenken.

Zeit zum Zweifeln: dieser großartige Schalterbeamte, der mir damals uralt vorkam. Aber sicher noch vor der Rente war. Lebt er noch? Und wie konnte ich ein spektakuläres und weltbekanntes Mailänder Risotto essen, ohne zu merken, was ich vor mir hatte.

Ich versuche, meine Gedanken auf die nächste Reise zu fokussieren: Brandenburg. Auto. Tiefgarage. Sie müssen erst die Karte vor den Schlüssel halten. Und dann damit das Garagentor auffalten.

Ich komme an der Kreuzung Dominicusstraße/ Hauptstraße an. Sage mir „Auto. Carsharing. Denk an Deine PIN. Begutachte das Auto.“ Mir bleibt Zeit. Mein Mietvertrag beginnt erst um 14 Uhr. Ich denke "AKAZIE" - so heißt die Station in der Akazienstraße. Benachbart wären GOLTZ, LAUTER oder NOLLE-JELBI.

 

Ich passiere die Paul-Gerhardt-Kirche, nutzte die Gelegenheit, um über den Kirchhof Alt-Schöneberg zu gehen: in 30 Sekunden von der lauten hektischen Großstadt in einen romantischen Park entfliehen. Ich laufe drei Meter durch die Belziger Straße, gehe zurück durch den Lassenpark, schaue in das Fenster des Stadtbads Schöneberg.

Wie immer diesen Frühherbst bleibe ich innerlich zerrissen zwischen „Ich will ins Schwimmbad!“ Und „Schwimmen ist nicht-nötiger-Luxus. Kein Grund dafür ins Hallenbad zu gehen. Freibad und Seen sind gut und schön. Aber im Hallenbad bringst du dich und andere Leute in Gefahr.“ Jeden Tag des Herbstes gewinnt die Überzeugung, jetzt erst recht nicht mehr hallenbaden zu wollen, an Gewicht. 

 

Quartett-Karte für das Stadtbad Schöneberg im Quartett Schwimmbäder in Berlin (Zitronenpresse)
Stadtbad Schöneberg im Berliner Schwimmbadquartett
 

Ich laufe an der Schöneberger Bibliothek vorbei. Wundere mich weiter über mein Ziel: „Akazienstraße? Ist doch Wahnsinn?“ Wie Cambio in die Akazienstraße kam, ist nachvollziehbar. Die Akazienstraße ist das Zentrum der Schöneberger Toscana-Fraktion.

Cambio, ex-Stadtauto, Hervorgegangen aus Umweltbewegung mit ehemals hoher Kundenrate unter politisch aktiven Studienräten, ist dort richtig. Aber es ist komplett irre: ausgerechnet in dieser überfüllten, anstrengenden Straße ein Auto abzuholen.


Cambio - die Geschichte


Allora! Cambio - ich wechsle. Cambiare – wechseln. Io cambio, tu cambi, lei cambia, noi cambiamo, voi cambiate, loro cambiano. Sie wechseln. Allora! Der Wechsel ist das Ziel des Anbieters: wechseln vom eigenen Auto hin zu geteilten Auto. Cambio ist eine der Urgestalten des Carsharings, das damals noch nicht einmal Carsharing hieß.

Anders als die heute bekannteren Anbietern wie DriveNow und andere ist Cambio deutlich älter. Das Unternehmen stammt aus der Ökobewegung und aus den Urzeiten des Carsharings. Hier steht kein großer Autokonzern hinter dem Unternehmen, sondern es muss sich selbst tragen.


Ist es nicht ein tolles Carsharing-Gif? Bild: Animiertes Logo für Carsharing von:  Lämpel Lizenz:
Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported


 

Aber „das Unternehmen?“. Ich staune, „das Unternehmen“ existiert gar nicht. Die Wikipedia klärt mich auf: Die „cambio Mobilitätsservice GmbH & Co. KG“ selbst bietet kein Carsharing an. Cambio liefert Marke und Serviceleistungen (Technik, Callcenter) an selbstständige Betreiber des Carsharings. Die sind regional sehr unterschiedlich aufgestellt. In Berlin beispielsweise liegt die Zentrale zwischen Kreuzberg und Schöneberg – altes Zentrum der BRD-Umweltbewegung. Die Autostationen liegen zum Großteil in diesen beiden Ortsteilen. Im Norden, Westen und Osten Berlins – gibt es nichts Vergleichbares.

Cambio ist nicht so hip wie die konzerngetriebenen Carsharer. Aber sinnvoller. Wer braucht einen PKW nur im Berliner Ring? Kein Mensch. Das ist reines Lifestyleprodukt.

Wer benötigt ein Auto, um mal ein Wochenende aufs Land zu fahren oder um etwas aus Spandau abzuholen? Viele. Das Unternehmen hat den Anspruch, Menschen davon abzuhalten, eigene Autos zu kaufen. Mein Eindruck: Das kann funktionieren. Bei uns hat es vorerst funktioniert – aber wir sind noch in der Testphase.

Nur wie kommt eine Station in die Akazienstraße?
 

Aber die Akazienstraße?


Die Akazienstraße, vom Kaiser-Wilhelm-Platz bis zur Apostel-Paulus-Kirche. Die Straße, die so gerne die zentrale Fußgängerzone Schönebergs wäre. Sie hätte diesen Status in jeder funktionierenden Stadt schon erreicht. Toscana-Fraktions-Ballermann mit Café-Tischen auf der Straße, puschligen Batikgeschäften, Speziallitätenläden für handgesammelte italienische Trüffel. An den Kreuzungen eins, zwei Buchhandlungen und ein Straßenbilderhauer, der seit 1972 an seinem Monumentalwerk auf der Kreuzung arbeitet.

Umgeben von Cafés, Spezialitätengeschäften und Buchhandlungen. Bearbeitet von Open Street Map © OpenStreetMap contributors, made available under the terms of the Open Database License (ODbL)


Wenn da nicht die Verkehrslenkung wäre. Die hat beschlossen, dass die Akazienstraße eine wichtige Durchgangsstraße ist. So quälen sich die Cafébesucher, bummelnde, fahrradelnde und der Auto-Durchgangsverkehr durch ein viel zu enges Sträßchen. Lieferwagen und Nur-schnell-mal-ein-Pasta-fresca-Kaufende bringen die Straße endgültig zum Erliegen.

Die Akazienstraße, die Straße mit den fantastalliarden Fußgängern auf den berlin-untypisch engen Fußwegen, den anderen fantastilliarden Radfahrern auf der Straße und den Hunderten Autos, die sich um die 20 Parkplätze am Straßenrand streiten? Wer kommt auf die Idee, ausgerechnet in der Akazienstraße Autos zu deponieren?


Die Station


Akazienstraße Nummer sechs. Ein unauffälliger Nachkriegsbau, der mir bisher nur aufgefallen war, wegen des Schilds „Einfahrt für druckgasbetriebene Fahrzeuge verboten.“ Zwei Einfahrten zur Tiefgarage. Eine für mich, eine für andere Menschen. Am Eingang der Tiefgarage steht ein Cambio-Schlüsseltresor. Ich halte mein Kärtchen davor, gebe die PIN ein. Die Tür öffnet sich. Über Schlüssel Nummer 5 blinkt ein Lämpchen. Ich ziehe den Schlüssel heraus.


Tiefgaragentor Akazienstraße 6, Einfahrt zur Cambio-Station
Das Tor
 

Mit dem „normalen“ Teil des Schlüsselbunds betätige ich ein Schloss neben dem Tor zur Tiefgarage. Rumpelnd fährt das Tor nach oben. Ich steige in die Unterwelt einer Nachkriegstiefgarage hinab. Ein Fiesta blinkt mir freundlich entgegen. Nervös nehme ich den Wagen in Augenschein, will ja keine Vorschäden übersehen. Nachdrücklich hatten mir die Anleitungen eingeschärft, unbedingt auf Vorschäden zu achten. Nichts. Gut! Ich steige ein, lese das Bordbuch durch. Stelle fest, dass dort drei Vorschäden eingetragen sind, die ich offenbar alle übersah. 



Aber gut, Hauptsache ich verursache keinen zusätzlichen Schaden. Ich versuche, die Bedienung des Autos zu verstehen. Schließe das Tor wieder auf, das nach oben rumpelt. Mit dem Kleinwagen gelingt es mir, mich durch Zweitreihenparkende, Radler und Fußgänger auf die Hauptstraße zu manövrieren. Juhu. Auf nach Brandenburg. Nein, fast, noch nicht. Cambio und mein Vorfahrer haben mir einen zu erfüllenden Task in den Weg gelegt: Tanken!


Einfahrt / Eingang in die Akazienstraße 6, Cambio-Station
Der Weg hinab

Das erste Abenteuer: Tanken


Ein Abenteuer, das Tanken. Ich las und dachte zu verstehen „Tanken mit Tankkarte wenn nötig, ganz easy.“ Ich las die Anleitung im Auto „Tank bei Abgabe immer mindestens ein Viertel voll. Tanken mit dieser Karte nur bei ARAL möglich.“ In Brandenburg, am Garten, gibt es natürlich kein ARAL. Wenn ich tanken muss, dann in Berlin. Jetzt, in der Nacht. Ich schaue auf den Stand: laut Tankstandsanzeiger etwa 26% Rest.

Ich habe null Ahnung, wie viel der Wagen verbraucht. Eigentlich sollten 26% für 100 Kilometer Autofahrt reichen. Aber ich fuhr einst einen japanischen Kleinstwagen, der alle 200 Kilometer einen neue Tankfüllung und alle 2000 Kilometer einen Satz neuer Miniaturreifen benötigte.

Auf zum Sachsendamm zu ARAL. Ich rangiere den Fiesta an die Tanksäule. Glücklicherweise verteilt Zapfstelle Nummer 7 nicht nur LKW-Diesel, sondern auch Benzin. („Keine Spezialkraftstoffe!“ „Kein E10!“) Ich tanke, lege die Maske an, schlendere zur Kasse und lasse mit aller coolen Gelassenheit, die ich am Dienstagabend so aufbringe, mein Kärtchen aus dem Handgelenk auf den Tresen gleiten. „Mein Name ist Dirk. Und jemand anderes bezahlt.“


Cambio-Ford-Fiesta in der Station Akazienstraße 6.
Der Fiesta blinkte freundlich als ich kam

 

Die Kassiererin steckt die Karte ins Gerät. Das Gerät sagt „PIN?“ Ich sage „PIN???“ Sie sagt: „Da kann ich Ihnen auch nicht helfen.“ Hektisches herumsuchen auf dem Handy folgt. „Cambio PIN Tanken“? Erfolglos. Ich eile zurück zum Wagen. Einen halben Meter hinter diesem steht ein Vierzigtonner, der gerne an den LKW-Diesel will. Er wirkt ungeduldig. Ich durchhaste die Anleitung. „Ah, der PIN steht am Schlüsselbund.“ Eile zurück zur Kasse.

Meine Karte landet nicht mehr ganz so locker in der Lesemaschine. Aber ich gebe voller Freude und Souveränität die PIN ein. Das Kartengerät piept zufrieden. Ich auch. Das Kartengerät fragt: „Kilometerstand?“ Ich: „Kilometerstand???“ Die Frau an der Kasse: „Da kann ich Ihnen auch nicht helfen.“ Im Schock sehe ich jede Sekunde der Fahrt bis hierher wie einem Film an mir vorbeiziehen. Zum Glück laufen an meinem inneren Auge auch die zwei Sekunden vorbei, in denen ich die 64.000 Kilometer auf der Anzeige las. Gerettet.

Kein Abenteuer: Die Stadtautobahn


Die Fahrt auf der Stadtautobahn beherrsche ich inzwischen im Halb- Tief- und Garnichtschlaf. Auf die Spur ziehen, in den Verkehr einreihen und vom Brummen des Autos in den Zustand aufmerksamer Meditation versetzen lassen. Nur die moderne Technik irritiert. Warum muss ich einen 4k-Monitor mit 3D-Stadtplan anschalten, nur damit mir die Uhrzeit angezeigt wird? Das Auto lässt es sich nicht nehmen, mich zu ermahnen, wenn es denkt, ich würde falsch schalten. Schließlich fast im Garten, möchte ich das Fernlicht ausprobieren. Woraufhin sich der Spurhalteassistent einschaltet. Warum? Ich herrsche das Auto an: „Entweder ich fahre. Oder Du fährst. Aber wir beide gleichzeitig. Das nervt.“ Der Ford Fiesta bleibt stumm.

Ankunft im Garten. Kraniche sehen, den Dutch Oven streicheln. Orfeo lesen. Mich an Madame erfreuen. Schlafen. Dietbert erzählt mir, dass er nun eine Fütterstation für Spatzen hat. 50 Stück kommen regelmäßig! Und ein Falke. Der schlägt fast jeden Tag einen oder zwei Spatzen. Mir deucht, das Konzept hat Verbesserungspotenzial. Aber ich muss los.

Zum Ullstein Castle fahren. Danach in die Akazienstraße parken. Feststellen, dass selbst ein Kleinwagen aus dem Jahr 2015 für Nachkriegstiefgaragen recht groß ist, das Einparken einiges an Aufmerksamkeit erfordert. Ich werfe einen prüfenden Blick: Kofferraum leer und nicht dreckiger als vorher. Kein neuer Kratzer, den ich sehen würde. Fenster sind oben, Türen sind abgeschlossen.

Ich steige die Tiefgarage empor. Mein Kärtchen öffnet den Tresor. Ich stecke den Schlüssel hinein. Das Display am Schlüsselsafe informiert mich: 114 Kilometer, Tankstand 93%. Etwa zehn Tage später kommt die Rechnung: Die Gartenübernachtung kostete mich 46 Euro.

Zum Weiterlesen

Dirk und die Mietwagen, ein früheres Kapitel: Parken Jerusalem möglich. Tatsächlich mietete ich nur einmal in meinem Leben etwas Größeres als einen Kleinwagen. Einen Inifiniti in den USA. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Lohnende Ausflugsziele: Traktorfreitag - Rain Out

Historisches Interesse an Ford: Traktorfreitag - Kraftpflug

Zum Anschauen

Der musste natürlich sein. Das Lumpenpack mit „Ford Fiesta“.

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