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Samstag, 28. Dezember 2019

Tanzen im Blindensportverein

Madame und der Pirat tanzen einen eleganten Foxtrott über das Parkett der Aula. Ich bewundere aus der Ferne seinen Stoffpapagei auf der Schulter. Robbie Williams spielt. Die beiden gehen beschwingt vor. Slow slow quick quick. Der Pirat setzt eine Drehung an. Quick quick. Es rummst.

Das war die Wand. Sie halten kurz inne. Madame fragt „Aber du führst doch?“ Er antwortet: „Ja, aber ich sehe nicht, wo die Wand ist.“ Damit hat der Pirat Recht. Er sieht nicht, wo die Wand ist. Er sieht nicht, wo die anderen Tänzer sind. Er sieht auch Madame nicht.

Festsaal im Wiener Rathaus. Bearbeitetes Bild: stark verschwommen. Im Wesentlichen sind vage Konturen und Farben zu erkennen.
Bearbeitet. Ursprüngliches Bild: Festsaal im Wiener Rathau Fotograf:  SciBall19 Lizenz Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.


Willkommen beim Ball des Blindentanzvereins. Dort, wo die Führenden führen, aber die Geführten manchmal auf den Weg achten. Der Ort, an dem die schnellste Polonaise südlich des Innenstadtrings getanzt wird. Der Ort an dem sich Rumba, Cha-Cha und Walzer mit einer an Kuscheligkeit grenzenden Herzlichkeit verbinden.



Tief in den Wäldern Zehlendorfs residiert der Allgemeine Blinden- und Sehbehinderten Verein gegr. 1874 (ABSV), mit seinem Vereinszentrum. Das Zentrum, großzügig und offensichtlich in den 1960ern/frühen 1970ern gebaut, zeigt Beton außen und Holz innen. In der Auerbachstraße, unweit der S-Bahn ist das Zentrum seiner Aktivitäten.

Im Zentrum betätigt sich der Berliner Blinden- und Sehbehindertensportverein von 1928 e.V. (BBSV). Der bietet neben Schwimmen, Gymnastik. Showdown (Tischball), Kegeln, Tandem fahren und Torball auch Tanzen an. Die Tänzer beteiligen sich nicht an Wettkämpfen. Sie arbeiten sich durch die deutschen Tanzabzeichen von Bronze bis Gold. Meines Wissens gab und gibt es bis zu drei Gruppen, sowohl für Anfänger wie für Fortgeschrittene.

Blindentanzen


Im Blindensport bildet Tanzen eine Ausnahme. Vielleicht mangelt es nur an Teilnehmern für sportliche Blindentanzwettbewerbe. Eine Suche nach Tanzen speziell für Blinde bringt in Deutschland eine Handvoll Treffer. Die Hälfte davon bezieht sich auf Sehende, die aus Gründen der Selbsterfahrung meditativ mit verbundenen Augen zu Musik durch die Gegend hüpfen. Mit Walzer, Tango und Quickstep, Chassés, Ojos und Locksteps hat das wenig zu tun.

Turnieranzpaar beim Cha Cha. Bearbeitetes Bild: stark verschwommen. Im Wesentlichen sind vage Konturen und Farben zu erkennen.
Bearbeitetes Bild. Ursprünglich: WDSF Austrian Open 2015 
2015 WDSF World DanceSport Championship Latein am 21. November 2015 in Schwechat: Cha Cha Cha, Simone Casula / Laura Marras, Italy Fotograf: Ailura Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Austria.


Hier aber tanzen Blinde und Sehbehinderte. Hier wird nicht gehüpft. Der Blindentanzverein tanzt klassischen Ballroom. Beim ersten Eindruck irritierend. Wir fragten uns: Blinde können tanzen? Durch eigene Anschauung wurden wir eines Besseren belehrt. Nachdenken führt zur Überraschung, wie selten es angeboten wird.

Bietet sich die Beschäftigung durch ihre Durchführung als Paar an, um einen Menschen dabei zu haben, der auf Raum und Weg achten kann. Tanzen ist bewiesenermaßen für Sehende und Blinde die eierlegende Wollmilchsau, um Körper und Geist im Training zu halten. Die Koordination von Körper. Raum, Partner, Figur und Musik scheint den Heiligen Gral des geistigen Trainings zu bilden.

Gleichzeitig berichten viele der Anwesenden uns von der Frustration mit „normalen“ Tanzkursen. Die Seejungfrau an unseren Tisch berichtet, dass sie uns ihr Partner extra jede Woche aus dem ländlichen Sachsen-Anhalt nach Berlin fahren, nur um am Blindentanzkurs teilzunehmen. Der reguläre Tanzkurs brachte es nicht.

Tanzen lernen 


Übliche Tanzkurse beruhen darauf, dass der Lehrer oder Trainer etwas zeigt und man versucht, es nachzumachen – eine Herangehensweise, die nicht funktioniert, wenn man das Gezeigte nicht sehen kann. Sprache tut sich schwer, Bewegung im Raum präzise zu beschreiben. Tanzlehrer und -trainer stehen vor einer Aufgabe, für die sie nicht ausgebildet sind und mit der sie keine Erfahrung haben.
Tanzen lernen funktioniert für die Blinden – dauert aber länger und erfordert mehr Körperkontakt.

Je überforderter der Tanzlehrer, desto länger dauert das Lernen.  Bei üblichen Kursen hängen sie oft dem Rest des Kurses hinterher. Es stellen sich Frusterlebnisse ein. Im Zweifel merken die Blinden, dass der Trainer sich mit ihnen unwohl fühlt. Denn er fühlt sich unsicher und weiß nicht, wie er mit der Situation umgehen soll.

In Zehlendorf üben die Paare unter Leitung des sehenden Trainers Michael Putzolu, der in seinem restlichen Leben unter anderem Wertungsrichter beim Sporttanzen ist. Der hat im Laufe der Jahre seine Technik vervollkommnet, Tanzschritte zu vermitteln, ohne sie zeigen zu können. Genaue Beschreibungen und Körpereinsatz des Trainers die Geheimnisse zu sein. Orientierung im Raum erfolgt über den Schall: Wo die Musik herkommt, ist die Bühne vor dem Saal.

Bekannte brachten uns mehrfach zu öffentlichen Veranstaltungen des Vereins. Da war der sonntägliche Tanztee, vor allem aber der Faschingsball. Wir hatten Hemmungen. Die verschwanden innerhalb von Minuten. Und es war unfassbar nett und sehr schön und diese unspektakuläre selbstverständliche extreme Freundlichkeit. Als kämen wir seit 100 Jahren.


Können Blinde tanzen?


Um die Frage zu klären: Können Blinde tanzen? Ja, sehr gut. Wir haben es gesehen. Die einen können es halt besser die anderen schlechter, wie immer. Bei vielen, aber nicht bei allen, Paaren kann ein Partner sehen. Führt der Sehende, läuft es wie an anderen Orten. Wird der Sehende geführt, führt der Führende die Figuren, während der geführte auf die Position im Raum und die anderen Paare achten muss. Sind beide blind, ist der Spaß doppelt groß. Der Ausgelassenheit und Freude an der Bewegung tut das keinen Abbruch.

Ein paar Unterschiede zum Tanzen für Sehende gibt es doch: Wiener Walzer wird nicht getanzt – zu groß das Risiko, mit Tempo und Schwung rückwärts in der Bande zu landen. Zumal meines Wissens das beim Wiener Walzer stets vorhandene Schwindelrisiko größer ist, wenn man Bewegung und Lage im Raum nicht mit den Augen abgleichen kann.

Brasilianische Sambatänzerin. Bearbeitetes Bild: stark verschwommen. Im Wesentlichen sind vage Konturen und Farben zu erkennen.
Bearbeitetes Bild. Ursprünglich: Kashira Carnival 2019 Rio de Janeiro Renascer de Jacarepagua 
Fotograf: Katarzyna Stocka Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.


Auch bei anderen Tänzen wird auf allzu raumgreifende Figuren verzichtet: Kollisionsrisiko minimieren. Renner was die Beteiligung anging, waren der Cha Cha Cha – Drehungen, Sweetheart, und uns unbekannte Figuren. Noch beliebter: der Langsame Walzer mit eleganten Promenaden, außenseitigen Wechseln und Chassés.

Eindrucksvoll: Santiano! Die Polonäse mit gefühlten 30 km/h durch den Raum, nach links und rechts ausschwenkend. Wie alles mit Verve. Spielt hier eine Rolle, was auch das Meditationshüpfen für Sehende mit Augenbinde nach vorne treibt? Wenn man nicht sieht, macht man sich keine Sorgen, dass es doof aussehen könnte? Das bleibt Spekulation. Weniger denken. Mehr tanzen. Mit Schwung in die nächste Kurve. Ohne Verletzte.

Überhaupt Faschingsball. Wir konnten es nicht lassen im Vorfeld zu lästern: Wozu Kostüm? Sieht ja eh niemand. Welch ein Irrtum! Sehbehinderte können Reste erkennen. Damit ein Kostüm unter diesen Umständen wirkt, muss es dick auftragen. So schöne, abgefahrene Kostüme sah ich seit dem Kinderfasching nicht mehr: Piraten, Indianer, ein Brokkoli, Seemänner, welch eine Schau.
Für die anderen werden die Kostüme erklärt. Und so schiebt dann der Pirat mit Kopftuch den Brokkoli zur Rumba über das Parkett. Dreht sich eine elegante Meerjungfrau beim Tango. Madame und ich, spätestens seit dem zweiten Mal bemüht beim Kostüm halbwegs mitzuhalten, genießen die Herzlichkeit und drehen uns beim Walzer.

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Tanzen beim Blindensportverein.

Beatrix Fincke für die Berliner Morgenpost beschrieb ausführlich: Rumba im Dunken: Wie blinde Menschen tanzen lernen

Mehr Tanzen: Everybody loves to Cha Cha Cha

Zehlendorf. Der Bezirk besonderer Tanzveranstaltungen:  Schritt – Plié – Schritt – Schritt – Schritt – Plié. Menuett im Gemeindehaus

Mehr Musik: Musik-Übersicht.





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