Samstag, 28. Dezember 2019

Tanzen im Blindensportverein

Madame und der Pirat tanzen einen eleganten Foxtrott über das Parkett der Aula. Ich bewundere aus der Ferne seinen Stoffpapagei auf der Schulter. Robbie Williams spielt. Die beiden gehen beschwingt vor. Slow slow quick quick. Der Pirat setzt eine Drehung an. Quick quick. Es rummst.

Das war die Wand. Sie halten kurz inne. Madame fragt „Aber du führst doch?“ Er antwortet: „Ja, aber ich sehe nicht, wo die Wand ist.“ Damit hat der Pirat Recht. Er sieht nicht, wo die Wand ist. Er sieht nicht, wo die anderen Tänzer sind. Er sieht auch Madame nicht.

Festsaal im Wiener Rathaus. Bearbeitetes Bild: stark verschwommen. Im Wesentlichen sind vage Konturen und Farben zu erkennen.
Bearbeitet. Ursprüngliches Bild: Festsaal im Wiener Rathau Fotograf:  SciBall19 Lizenz Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.


Willkommen beim Ball des Blindentanzvereins. Dort, wo die Führenden führen, aber die Geführten manchmal auf den Weg achten. Der Ort, an dem die schnellste Polonaise südlich des Innenstadtrings getanzt wird. Der Ort an dem sich Rumba, Cha-Cha und Walzer mit einer an Kuscheligkeit grenzenden Herzlichkeit verbinden.

Dienstag, 17. Dezember 2019

Lesebericht: Carmen Rohrbach „Solange ich atme“.

Suchscheinwerfer beleuchten Wasser und Himmel über der Lübecker Bucht. Die nächtliche Lightshow beginnt. Die Lichtkegel wandern ruhelos doch regelmäßig durch die Nacht. Wir stehen am Strand von Grömitz. Im Urlaub an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins. Die Scheinwerfer ziehen etwa 15 Kilometer Luftlinie am anderen Ufer der Lübecker Bucht ihre Kreise.

Für mich bieten die Lichtkegel eine Lightshow. Ich, mit einem spätabendlichen Waffeleis in der Hand, das Gefühl von Sand, dem Beginn eines Sonnenbrands und Meerwasser auf der Haut, genieße Abend und Unterhaltung. Im Klützer Winkel, Bezirk Rostock, an der DDR-Seite der Bucht, bedeuteten die Scheinwerfer militärisches Sperrgebiet, Schusswaffengebrauch und Lebensgefahr.

Cover des Buchs "Solange ich atme von Carmen Rohrbach". Prägendes Bild: ein Proträt der Schriftstellerin zum Zeitpiunkt der Buchveröffentlichung mit verwehtem Haar, breitem Lächeln und Outdoor-Klamotten irgendwo im Freien.
Carmen Rohrbach: „Solange ich atme“ National Geographic, 12,99€


Es waren viele Ostseeurlaube. Grömitz. hf leipzig fuhr jeden Sommer an den Ort an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Gelegen an der Westküste der Lübecker Bucht erlaubte die Promenade Grömitz den Blick auf die eigentliche Ostseeküste – den Osten. hf leipzig wollte nicht in den Klützer Winkel, sondern nach Rügen und Usedom. Dorthin versperrte ihm die Grenze den Weg. Als einer, der vor dem Mauerbau aus der DDR abgehauen war, wollte er auf keinen Fall diese Grenze überschreiten. hf Leipzig ging keinen Fußbreit in „die Ostzone“ solange die Stalinisten dort an der Macht waren.

So fuhren wir jedes Jahr an die Ostsee. Die Gefühle, die die suchenden Lichtkegel in ihm auslöste, kann ich nur erahnen. Ich bewunderte die Lightshow. Mir blieben, die Promenade, der Strand, Eis mit frischen Erdbeeren und das „Spieltrumcentrum“ (Kinderspielcenter Cap Horn)  - seit 2017 stillgelegt, ein kleines Zentrum mit einigen Arcadespielen und elekrischen Kinderautos in Erinnerung.

Wenig hätte ich geahnt, welche Dramen sich auf dieser Ostsee abspielen. Von diesen Dramen erzählt Carmen Rohrbach in „Solange ich atme.“ (Affiliate Link*)  Sie schwamm 28 Stunden weitgehend orientierungslos über das Meer. Mehrfach kurz davor unterkühlt und übermüdet das Schwimmen einzustellen und freiwillig zu ertrinken. Vom fast-rettenden Westschiff beinah überfahren.

Sie, keine Leistungs- oder Sportschwimmerin, war 28 Stunden auf der offenen See. Und Rohrbach erzählt davon im Buch „Solange ich atme“ in einem Tonfall als hätte sie einen längeren Spaziergang im Harz hinter sich gebracht.


Solange ich atme