Es ist kurz nach Weihnacht
Wir sitzen um den ausgezogenen Tisch. Der Grünkohl hat den Crockpot verlassen. Die Pfanne wartet auf die Schollen. Die eigentlich zum Grünkohl geplante Wurst fiel in letzter Sekunde dem Einkauf beim Fischhändler Beckmann in Büsum zum Opfer.
Eigentlich wollten wir nur ein paar Krabben von Manni mit der Wollmütze kaufen. Aber während Manni gerade nach hinten verschwand, um einen Karpfen zu zerlegen, lachten uns die Schollen an.
„Können wir die Schollen noch ins Weihnachtsessen einbauen?“ Kurzes Nachdenken. „Wir haben Grünkohl“. Passt das?
Zum Grünkohl soll Schweinefleisch serviert werden. Schollen gehen mit Speck. Kohl- Schwein – Fisch. Das passt. „Funktioniert Grünkohl mit Scholle?“ Spontan-Internet-Suchen per Handy im Fischgeschäft brachte das erwünschte Ergebnis. „Hat hier jemand schon mal Scholle gebraten?“ „Nö, immer nur im Restaurant frisch gegessen.“ Wird schon gehen.
Jetzt sitzen wir hier, sechs Menschen und Betty aus der Nachbarschaft am Weihnachtstisch. Erstmals von Madame gebratene frische Scholle, Grünkohl und etwas Dicke Rippe vor uns. Madame wendete die Scholle in Mehl, briet sie kurz an et voilá, ein formschöner Fisch liegt auf dem Teller.
Betty, am Einkauf nicht beteiligt, hätte als ehemalige Betreiberin des Hotels Dithmarscher Hof in Friedrichsgabekoog natürlich die Scholle braten können, war aber eingeladen. Die Scholle liegt brav vor uns. Wir klappen sie auf. Da ist was Schwarzes in der Scholle. Es ist länglich, kegelförmig, wabblig und sieht appetitabregend aus.
„Habt ihr das schon mal gesehen?“. „Ne. Ist das die Leber?“. Betty lacht. „Rogen. Ich mach das nicht. Aber manche mögen es.“
Besonders schmackhaft ist Rogen nicht. Ist eher geschmacksneutral und hat eine komische Konsistenz. Manche stehen drauf. Den Blick am Tisch nach zu urteilen: Wir nicht. Nachdem wir nun geklärt haben, dass der Rogen vollkommen ungefährlich, vielleicht sogar schmackhaft ist, bleiben wir feige. Keine schwarzen Teile für uns.
Rogen in der Scholle
Aber da wir nun alle vielfach Scholle gegessen hatten und noch nie Rogen in ihrem Inneren fanden, fragte sich: was war diesmal anders?
Die Schollen kamen im Dezember auf dem Tisch. Und sie waren selber zubereitet. Die meisten Restaurants entfernen den Rogen. Denn er sieht komisch aus und vielen Leuten verdirbt er den Geschmack.
Aber auch: Rogen gibt es nicht im Sommer.
In Europa dürfen nur geschlechtsreife Schollen gefangen werden. Bis zum Laichen produzieren die Schollen zwischen 50.000 und 500.000 Eier mit 1,6 bis 2,1 Millimeter Durchmesser. Die Fische laichen bei etwa 6 Grad Wassertemperatur. In der hier relevanten Gegend, der Nordsee, liegt die Wassertemperatur im Winter und frühen Frühjahr bei sechs Grad. Das bedeutet: die Schollen laichen je nach genauer Gegend zwischen Januar und April. Da der Rogen nicht aus heiterem Himmel in ganzer Größe in die Scholle kommt, entwickelt er sich im Inneren des Fisches ab etwa Oktober. Im Winter und im späteren Herbst ist Rogen innerhalb der Scholle die Regel.
Deshalb ist es umstritten, ob man die Scholle im Winter überhaupt fangen und essen sollte. Viele Tiere haben zur Geburts- und Brutsaison Schonzeit. Schollen nicht. Aber die Gründe die dafür sprechen, keine werdenden Mütter und ihre 500.000 Kinder zu essen, gelten auch hier. Was in diesem Fall zu spät war. Die Scholle war tot. Eine Handaufzucht der Eier überforderte uns.
Schollen ohne Rogen
Im Mai haben die Schollen gelaicht. Im Sommer sind Schollen immer und überall rogenfrei.
Die sprichwörtliche „Maischolle“, berühmt und beworben an der Küste, ist die erste rogenfreie Scholle seit Monaten. Allerdings verdankt sie ihren Ruhm mehr der Geschichte denn ihrem Geschmack. Die besten Schollen gibt es erst später im Jahr.
In den alten Zeiten begann im Mai der Teil des Jahres in der Fischer gefahrlos auf das Meer hinausfahren konnten und Schollen fischen. Im Mai kamen die ersten Schollen nach dem Winter auf den Tisch – und dementsprechend begeistert waren die Schollenesser.
Dennoch: im Mai ist die Laich noch nicht lange her. Direkt nach dem Laichen werden die Tiere als glasig, fad und ausgelaugt beschrieben. Die Schollen sind noch dünn und entkräftet, brauchen eigentlich noch einige Wochen und Monate, um sich wieder Masse und Kraft anzufressen. Um sich wirklich in die hohe Leckerheit hineinzufressen, brauchen Schollen bis in den späten Juni oder Juli hinein.
So wusste schon Johann Friedrich Junius in seinem der „Durchlauchtigsten, Gnädigsten Prinzessin und Frau, Frau Friederica Louisa, Kronprinzessinn in Preußen“ gewidmeten Band „Die Hausmutter in allen ihren Geschäften“, Leipzig, 1782: „Je fleischiger die Schollen sind, desto besser ist ihr Geschmack. Die alten schmecken schlechter und sehen mehr rötlicher als weiß aus.“
Danach
Die Scholle laicht wo sie lebt: In tiefem Wasser. Im zarten Alter von 19 Millimetern ziehen die kleinen Schollen dann in das Wattenmeer, wo sie ihre Kinder- und Jugendzeit verbringen. Schollen sind also echte Wattenmeerbewohner, werden dort aber nicht gefangen. Nur erwachsene Fische sollen ins Netz.
Je älter sie werden, desto weiter ziehen sich die Fische wieder zurück in das Tiefe Wasser. In Nord- und Ostsee verbleiben die Fische bei etwa 70 Metern Wassertiefe. Sich tiefer aufhaltende Schollen wurden gefunden – was in der Nordsee allerdings schwierig ist, ist das Meer doch meist flacher. Im Mittelmeer hingegen leben Schollen auf 400 Meter Tiefe – weiter oben ist es zu warm.
Soll man Rogen essen?
Rogen ist die einzige Innerei, die sich regelmäßig in einer verzehrfähigen Scholle findet. Scholle ausnehmen ist einfach: einen Schnitt zwischen Kopf und Körper setzen bis zur Mittelgräte/Wirbelsäule. Die bleibt zusammen und wird nicht durchgeschnitten.
Dann den Kopf greifen, herausreißen und sämtliche Eingeweide hängen am Kopf, verlassen gleichzeitig die Scholle. Einzig die Rogen beziehungsweise „die Milch“, aka „der Samen“ sind nicht fest mit den anderen Innereien verbunden. Sie bleiben in der Scholle und müssen eigenständig entfernt werden. Das allerdings funktioniert weniger elegant, fast unumgänglich beschädigt es den Rest des Fisches.
Wenn man sein Staunen überwindet ist Schollen-Rogen natürlich als proteinreiche Nährstoffkonzentration wie alle Eier und Samen ein durchaus wertvolles Nahrungsmittel zum Verzehr.
Soll man Schollen essen?
Wie bei jedem Fisch stellt sich auch bei der Scholle angesichts von Überfischung und leerer werdenden Meeren die Frage: ist es ethisch vertretbar, Schollen zu essen? Die Antwort ist hier ein klares ja, nein, vielleicht, oder. Etwas ausführlicher: den Schollen selbst und ihrem Bestand geht es gut. Aber die Jagd mittels gängiger Methoden auf Schollen (und vor allem Seezungen) bringt auch Fische um, denen es nicht gut geht,
Der Schollenbestand ist noch nicht dort, wo er einmal war. Die Fischereistatistik des deutschen Reiches von 1875 spricht noch davon, dass in der Nordsee regelmäßig Fische von 50 bis 70 Zentimeter Länge mit einem Gewicht von 6 bis 7 Kilo gefangen werden. Davon sind heutige Verzehrschollen weit entfernt.
Allerdings ist der Bestand der Schollen höher denn seit Jahrzehnten. Er gilt allgemein als nicht gefährdet. Um die 2005er änderte die Fischerei ihre Methoden zumindest in den Randmeeren des Atlantiks. Die Bestände haben Chancen sich zu regenerieren. Schuld daran ist das Johannesburg-Abkommen von 2002, dass das Fischbewirtschaftsziel von „so viel Fangen, dass der Bestand nicht komplett verschwindet“ änderte zu „soviel fangen, dass der Fisch im optimalen Bestandsbereich bleibt.“
Seit 2008 schließlich wurden in der EU die Fangmengen für die Scholle der wissenschaftlichen Empfehlung angepasst. Seitdem geht es mit dem Bestand in Europa merklich nach oben. Der ICES, der internationale Rat für Meeresforschung, schreibt in seinen Bestandsempfehlungen 2017/2018 für die Nordseescholle: „Die Biomasse wächst seit 2005 stetig und erreicht 2017 den höchsten Wert seit Beginn der Aufzeichnung. Sie liegt damit weit über allen Referenzwerten. Die Nachwuchsproduktion liegt seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen des Langzeitmittels.“
Laut Deutschlandradio Kultur im Jahr 2015 gar fingen „Küstenfischer so viele Schollen wie nie zuvor. Doch ihre Freude darüber ist getrübt: Sie können die vielen Plattfische gar nicht alle verkaufen. […]Fischer witzeln, dass sie bald trockenen Fußes bis nach Helgoland laufen können, weil das Meer förmlich überquillt mit Schollen in rauen Mengen. Obwohl die Fangquoten für die Scholle jedes Jahr um jeweils 15 Prozent angehoben werden, wächst der Bestand und hat nun mit 700.000 Tonnen eine Rekordmarke erreicht.“
Problem Schollenfang
Die Umweltschutzverbände allerdings wollten 2015 noch keine Kaufempfehlung für die Scholle aussprechen: weniger wegen der Scholle selber, als wegen des Kabeljaus. Der ist in der Nordsee noch gefährdet und leidet unter dem Schollen- und Seezungenfang.
Sowohl WWF wie auch Greenpeace haben wenige Probleme mit dem Essen der Scholle an sich, aber durchaus Probleme mit dem Prozess wie sie aus dem Meer entnommen werden. In der taz (von 2014) schildert der WWF sein Problem eher mit den Fangmethoden als mit dem aktuellen Schollenbestand:
Auch Greenpeace sieht den Schollenbestand selber derzeit als vollkommen unproblematisch, weist aber auch gerade auf die Scholle als Fisch hin, der selbst gerade nicht gefährdet ist, die ökologischen Auswirkungen vor allem durch das „wie“ des Fangs entstehen.
„Normaler“ Plattfischfang funktioniert mit Schleppnetzen, die hohe Mengen Beifang produzieren – so dass bei der Jagd auf die Scholle auf jede Menge seltenerer und geschützterer Fische mit ins Netz gehen. Gerade die Baumkurren, die traditionell zur Plattfischfischerei eingesetzt werden, dringen mehrere Zentimeter tief in den Meeresboden. Sie scheuchen alles auf und fangen alles ein, was sich dort gerade aufhält, einschließlich Krebsen, Wirbellosen und anderen Fischen.
Traditionelle Schollenfischerei hat erheblichen Auswirkungen auf das Seegebiet, in dem sie stattfindet. Die als MSC-zertifizierten Schollenfischerein verwenden keine Baumkurren. Die derzeit ökologisch angesagten Formen des Schollenkaufs sind der Fang mit Snurrewaden und Stellnetzen, die die umliegende Ökologie deutlich weniger beeinträchtigen, als Baumkurren.
Verkompliziert wird das Bild mit Scholle und Kabeljau durch die Klimaerwärmung. Die Nordsee ist in den letzten Jahren merklich wärmer geworden. Die Scholle freut es, die mag es etwas wärmer; den Kabeljau aber gar nicht, der verschwindet Richtung Norwegen.
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Mehr Posts zum Thema Essen und Trinken in Iberty: Kultur in Iberty. Eine Übersicht.Eine schöne gezeichnete Anleitung zum Ausnehmen der Scholle. Inklusive des schönen Satzes „Dann den Kopf einfach abreißen.“
Dr. Catch bietet auch Tipps und schöne Bilder, wie man sich Plattfische selber angeln könnte.
Deutschlandfunk Kultur in einem eingehenden Bericht zu Bestandsentwicklungen und Fischereimanagement in Nord- und Ostsee.
Nicht direkt zur Scholle oder zu Plattfischen, aber eine faszinierende Lektüre zum Thema „was essen wir eigentlich, wenn wir Fisch kaufen“. Das österreichische Lebensmittelhandbuch zum Thema Fisch: mit den Vorgaben, welche Meerestiere unter welchen Bezeichnungen in welcher Form in den Handel kommen dürfen und müssen. Wobei Weinbergschnecken in Österreich anscheinend als Fisch zählen.
Wer tiefer in das Thema Bestand und Bestandsmanagement in der Nordsee einsteigen möchte: beim Thünen-Institut.
Nicht verlinkt, weil ich die Barbarei nicht unterstützen möchte. Aber es gibt Menschen, die Schollen zu einer Art Hamburger-Patty verarbeiten. Warum?
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