Sonntag, 30. Dezember 2018

Burg – Zelt – Höhle – die Paul-Gerhardt-Kirche in Schöneberg

Im Innern der Kirche hörte ich ein Konzert des Kirchenchors. War es Händels Messiah? Ein Bach-Oratorium? Oder das Ohrenlerchen-Stück von Einojuhani Rautavaara?



Wohlanständiges Bildungsbürgertum tummelte sich wie im Buche beschrieben. Sie verkörperten und verkörpern Werte des Selbermachens, der Kunst und Kreativität. Ein traditionell gutmenschlicher Anstand im positiven Sinne findet sich hier in einer Blüte, wie man sie in Berlin kaum für möglich hält.

Und dann trat ich vor die Tür: direkt gegenüber hatte der afghanische Supermarkt noch geöffnet, schräg gegenüber widersetzte sich der halbverfallene Sexshop allen Anstürmen des Internets(*). Getunte BMWs mit dunklen Scheiben fuhren über die Kreuzung, Sonderangebotsrufe des türkischen Supermarkts (neben dem afghanischen Supermarkt) schallten über die Straße und die internationale Crowd sammelte sich vor dem Eingang des englischsprachigen Kinos. Hier treffen und trafen Welten an einer Kreuzung aufeinander.

Paul-Gerhardt-Kirche von Norden




Ich drehte mich um, betrachtete die Kirche, aus der ich trat: Die Paul-Gerhardt-Kirche in Alt-Schöneberg: Dreiecke, übereinander gestapelt mit einem hohen steilen Turm. Umgeben von einer gestalteten Gartenfläche, die sich anschickt ein Park im Miniaturformat zu sein.



Das Gebäude selbst: Leicht zurückgesetzt von der Straße. Auffallend inmitten der Berliner Mietskasernen und wenig ambitionierten Nachkriegswohnkasernen der Gegend. Einzig anderes auffallendes Bauwerk ist die Dorfkirche nebenan: Ein rosa Barockkirchlein und dieses graues Beton-Dreieck stehen nebeneinander. Eine Mischung, die so überraschend wirkt, so fremd an diesem Ort, dem eigentlich nichts fremd ist, dass man sie fast übersieht.

Zeitweise fremdelte ich auch. Abstrakt war ich schon immer überzeugt, dass ich hier einen großartigen Bau sehe. Etwas fehlte mir die emotionale Zuwendung.  Vielleicht war die Kirche im Innern zu dunkel. Vielleicht waren die Menschen zu wenig, die Kirche zu leer. Vielleicht war auch die Luft zu klamm. Trotz großartigem Boden, großartigem Fenster und großartiger Flentorp-Orgel sprang der Funke nicht über.

Und dann: neben der Kirche im Dezember: ich durchlief einen engen Durchgang zwischen Fahrradständer und Kirchturm hin zum Gemeindehaus. Abendlicher dichter Nebel lag über den Gebäuden. Plötzlich dachte ich, ich bin zurück in England. Inmitten mittelalterlicher Burgen. Rechts neben mir die hohe steile Wand, bewachsen mit Wein. Und der Nebel.



Immer noch stand ich in Wurfweite von afghanischem Supermarkt, englischem Kino und Schawarma-Stand. Und fast hörte ich den Hund von Baskerville in der Ferne heulen – welches Gebäude schafft es schon, so eine Zeitreise zu veranstalten. Und da hatte sie mich: da wusste ich nicht nur all‘ die Vorzüge der Kirche intellektuell zu würdigen, sondern ich war auch emotional hingerissen. 



Eher Zelt als Tempel, eher Höhle als Königshalle


Da sind diese gestapelten Dreiecke. Ein Gebäude fast ohne rechte Winkel steht hier. Die Ambivalenz, dass die Kirche es beides schafft: dynamisch, zum Himmel strebend, dem Zelt ähnelnd mit dem die Wanderungen durch das gelobte Land erfolgend. Im Inneren abschirmend, einer Höhle der Geborgenheit ähnelnd – oder aber dem Zelt. Fast erwartet man ein wärmendes Feuer in der Kirchenmitte, um das sich die Gemeinde sammeln kann.

Die Kirche ist zur Straße hin abgeschlossen. Sie fühlt sich an wie „beherbergende Höhle“. Zur Straße hin: Wand, Empore, Orgel und dieser kleine Eingang, der wirkt wie ein enger Durchlass in eine große Höhle.

Zelt-Höhle-Kirche


Zwei Fenster brechen die Atmosphäre des geborgenen Dunkels auf:

Eins: Das breite Fenster hinaus auf den Kirchhof, dem traditionellen Friedhof Schönebergs. Das Fenster verbindet Kirche und Kirchhof: eine Kirche, bei der Leben und Sterben beieinander liegen. Die einen zu den anderen gehören.

Kirche, Kirchhof, Gemeinde und Vergänglichkeit.
Zwei: Das Fenster über dem Altar: dem Himmel zustrebend, fast schon raketenartig abhebend. Gott im Himmel, die Gemeinde in der Kirche und die Toten auf dem Kirchhof – ein Zusammenhang, verbunden durch die Kirche. Das Dach ragt tief herunter und zugleich strebt es die Höhe an. Mensch-Gemeinde-Himmel- wieder verbunden durch die Architektur der Kirche.

Der Blick gen Himmel.


Die Sitze angeordnet konzentrisch auf den Altar hin in verschiedenen Höhenstufen. In Konzertsälen nennt man dies Weinberg: gleichzeitig die Ausrichtung auf Altar beziehungsweise Bühne und die Verbindung in einer Form von Altar und Sitzen.

Der einzige Teil, der von der alten Paul-Gerhardt-Kirche, zerstört im Zweiten Weltkriegm stammte, ist der Taufstein am Eingang, der aus einer Säule der alten Kirche geschlagen wurde. Auch hier wieder eine fast urchristliche Symbolik: der Taufstein am Eingang, nicht neben dem Altar, symbolisiert, dass der Weg ins Innere und zum Gottesdienst über die Taufe führt. Diese steht vor allem Anderen.

Gebaut für Musik


Die Flentorp-Orgel steht auf der Empore. Diese ist mit das Beste was West-Berlin an Kirchenorgeln zu bieten hat. Überhaupt die Akustik: Fehling, der Architekt der Paul-Gerhardt-Kirche, war Schüler von Scharoun, der die Berliner Philharmonie entwarf. Deren Prinzipien kommen hier klar zum Einsatz: auch die Optik ist ähnlich. Aber wo die Philharmonie in Gold, Weiß und Holz scheinen soll, ist hier der nackte Beton.

Blick von der Empore der Paul-Gerhardt-Kirche, Schöneberg.

Zum Vergleich. Blick in die Berliner Philharmonie.



Katharina Franke schrieb einst im Gemeindebrief:

Der Schall darf sich nicht weit entfernen, Es naht sich selbst zu euch der Herr der Herrlichkeit.“ sang der Neue Chor in einer Bach-Kantate am Vorabend des Ersten Advents in der Paul-Gerhardt-Kirche. Ihr Architekt, ein Schüler des Philharmonie-Baumeisters Scharoun, schickt den Schall geschickt von Wand zu Wand, vom Zeltdach in die Bankreihen, im stumpfen Winkel des Fünfecks und damit ganz nah an unser Ohr.
Ein Gebäude, das es uns leicht macht, zu hören, zu verstehen und zu erkennen. Ein Gebäude, das uns nicht im lieblichen Pastell umschmeichelt und doch so eindringlich zu uns spricht. Ein Gebäude, wie für Sinfonien gemacht, für den Zusammenklang der Unterschiede, für das gemeinsame Atmen und Klingen und Hören.


Dorfkirche, St. Norbert, Dorfanger


Direkt neben Paul-Gerhardt liegt die alte Dorfkirche. Diese Beiden stehen inmitten eines großen Gemeindezentrums mit George-Bell-Haus, Gemeindezentrum und eingebettet in den Kirchhof.

Initialen und Gruppen wieseln her herum, erzeugen ein lebendiges Gemeindeleben, dass ich nach Ansicht der spärlich besuchten Gottesdienste in seiner Grüße und Intensität nicht erwartet hätte. Hat man erst einmal die Stufen zur Kirche durchschritten, wird hier das alte Schöneberger Dorfzentrum lebendig.

Paul-Gerhardt und Dorfkirche Schöneberg

Nicht weit entfernt liegt die katholische St. Norbert-Kirche, ebenfalls ein von Fehling stark umgestalteter Bau des 19. Jahrhunderts, deren architektonische Nähe zu erkennen ist. Ebenfalls in der Nähe steht das alte Gemeindegelände der Baptisten mit Kirche, Wohnhäusern und einem Altenheim – die hier auch schon so lange sitzen, dass sie im Zweiten Weltkrieg der Alt-Schöneberger Gemeinde Obdach boten. Ist hier eine UNA SANCTE inmitten der Großstadt?

Turmspitzen Dorfkirche Schöneberg und Paul-Gerhardt-Kirche

Die Kirche liegt am südlichen Teil des alten Schöneberger Dorfangers. Dort, wo das ursprüngliche Zentrum Schönebergs liegt. Kirche, Polizeiwache, Museum, Bibliothek und Schwimmbad vermitteln noch den Eindruck eines alten Dorfzentrums: und doch scheint es Niemandsland zerrissen zwischen den Schöneberger Teilen, die sich eigenständig entwickelten.(**)

Da ist das Bayerische Viertel: eins Wohnort der Intellektuellen, heute Refugium für höhere Senatsbeamte, Professoren und die Toskana-Fraktion: nördlich anschließen der Schwulenkiez. Im Süden Friedenau: die nächste Professoren- und Lehrerbastion.

Nördlich des Kiezes: der Schöneberger Norden mit dem Pallasseum: zurzeit vor allem dafür bekannt, dass sich dort Silvester Jugendgruppen sammeln und mit Böllern auf Passanten und Polizei losgehen.

Östlich liegt die Rote Insel: einst proletarisches Niemandsland. Seit der Verkehrsberuhigung und Regeneration das Viertel für Menschen, die sich in Berlin zu gut auskennen, um in den Prenzlauer Berg zu geraten. Und in der Mitte Alt-Schöneberg: zwei Vierspurige Straßen, die sich kreuzen: Ausweichstrecke zur Stadtautobahn. Mit türkischem und afghanischem Supermarkt, Pornokinos, ein paar Spielhallen, aber auch Klavierbauer, Buchhandlungen und dem besten Döner westlich von Neukölln. Hier steht die Kirche.     


Wie Gemeinde und Kirche einander fanden


Schöneberg war ein Dorf. Es hatte Im Jahr 1800 noch 500 Einwohner. Die Gemeinde passte dementsprechend problemlos in die barocke Dorfkirche.

Dann explodierte die Bevölkerung Berlins und Schönebergs. Im Jahr 1899 hatte Schöneberg 80.000 Einwohner. Am 15. August 1912 waren es 150.000 Einwohner – an diesem Tag wurde die Gemeinde Alt-Schöneberg geteilt. Die Gemeinde wuchs und wuchs. Das führte zum einen dazu, dass sie zeitweise zehn Pastoren beschäftigte und zahlreiche Tochterkirchen gründete, die dann später eigene Gemeinden wurden (Apostel-Paulus, Silas, Elisabeth-Kranken- und Diakonissenhaus, Zum Guten Hirten, Zum Heilsbronnen, Königin-Luise-Gedächtnis, Luther, Michael, Nathanael, Philippus, Zwölf-Apostel.)

Es führte aber auch dazu, dass in Alt-Schöneberg selbst ein großer repräsentativer Kirchenbau entstand. Am 15. August 1908 erfolgte die Grundsteinlegung, am 12. September 1910 die Einweihung der alten Paul-Gerhardt-Kirche. 
Fast das gesamte Kirchengelände samt alter Dorfkirche und neuer Paul-Gerhardt-Kirche wurde am 22. November 1943 zerstört. Die Dorfkirche wurde 1953 wieder errichtet und 1955 gewidmet

Am 30. Juni 1959 wurden die Turmreste der alten Paul-Gerhardt-Kirche gesprengt. Der Grundstein für die Paul-Gerhardt-Kirche wurde gelegt am Todestag Paul Gerhardts am 27. Mai 1960. Das Richtfest war am 28. Juli 1961.

Zur Einweihung verkündeten sie.

Wie in den alten Zeiten von Romanik bis Barock geht es um neues zeitgemäßes Bauen „Wir bauen wieder ‚moderne‘ Kirchen. Wir werden nicht so kühn sein, die Bauten unserer Zeit – einer Zeit des Umbruchs auf allen Gebieten – mit den großen Werken klassischer abendländischer Baukunst vergleichen zu wollen. Wir können unsere Gotteshäuser nicht messen am Dom von Speyer oder an unserer Marienkirche. Aber wir bemühen uns, in unserem Kirchbau wahrhaftig zu sein, denn ‚die Kirche wird eine unverstandene Merkwürdigkeit, wenn ihre Gotteshäuser fremd und zusammenhanglos zwischen den Wohn- und Arbeitsstätten des heutigen Lebens stehen‘“ (W. Stählin, Gottesjahr 1929) […] Wenn auch unser Bau Form und Material der Zeit aufgenommen hat und nicht fremd wirkt in der Großstadt von heute, so wird doch deutlich, daß hier ein Gotteshaus steht.

Bezüge auf das Frühchristentum finden sich mehrfach. „Wir leben nicht mehr in einer christlichen Welt, wie sie das Mittelalter darstellte, dessen Dome auch äußerlich den Reichtum des Glaubens ausstrahlten. Unsere Zeit ähnelt den ersten Jahrhunderten, in denen Kirche in einer nicht-christlichen Umwelt lebte.“

Eine kleine Vaterunser-Glocke stiftete Günther Lusche 1961. Ein Seilfabrikant, der immer noch genau gegenüber der Kirche auf der Hauptstraße seine Geschäftsräume hat. Eine Glocke wird mit einem Seil aus dem Innenraum geläutet – die Vermutung liegt nahe, dass auch dieses von Günter Lusche stammte oder stammt.


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Da wäre die schmale Broschüre zur Einweihung. Zumindest in der Stadtbibliothek Berlin existiert sie mit der Signatur Od 974. Herausgeber: der Pfarrer der Kirchengemeinde Alt-Schöneberg, Druck: Hans Winter Buchdruckerei

Einige Fotos und wenigen Text. Aber viel Kontext steht im Buch: Beton und Glaube von NikolausVoigt und Patrick Bernau.

Fehling und Gogel existieren noch und haben eine kleine Website zur Kirche.

Keine Kirche ohne Gemeinde. Hier residiert die Gemeinde Alt-Schöneberg.

Zur Dorfkirche – und damit auch zur Gemeindegeschichte - existiert ein neues Buch von Mark Pockrandt: „Die Dorfkirche Schöneberg. Kirchliches Leben seit 1764“

Über die Architekten erschien eine Monographie auf Deutsch (2013): Gebaute Landschaften: Fehling + Gogel und die organische Architektur: Landschaft und Bewegung als Natur-Narrative und eine auf Italienisch (1981) – Piergiacomo Bucciarelli: L'architettura di Fehling e Gogel: vitalità dell'espressionismo.

madame poupou schreibt in ihrem laboratorium ausführlich: Der Raum ist Klang ist Schall ist Gottes Wort.

Scissorella (Mode- Kunst – Kultur) war auch kurz da: „Bei meiner letzten Berlinreise fuhr ich eines Tages mit dem Fahrrad in Schöneberg die Hauptstraße entlang […]  als mir plötzlich ein ganz unglaubliches Gebäudeensemble ins Auge fiel, das mich abrupt meine beschwingte Fahrt unterbrechen ließ.“

Alles zur Kultur in Iberty: Kultur in Iberty! Eine Übersicht.

 

Anmerkungen


(*) Nicht mehr lange, erscheint es mir. Wer Glasvitrinen und weiße Regale benötigt, die vorher in einem Sex-Shop waren: sie stehen zum Verkauf. Adresse vermittle ich gerne, Kontakt habe ich leider auch keinen.

(**) Alles was man wissen muss: es gibt ein Buch nur zur Straße, die an diesem Ortskern vorbeiführt. Und selbst Volker Wieprechts „Zwischen Kreisel und Kleistpark“ gelingt es, das Schöneberger Dorfzentrum nicht wahrzunehmen. Selbst als er von Bekannten auf die Kirche hingewiesen wird, bleibt er blind für alles Drumherum.

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