Teilnehmer einer Leipziger Montagsdemo 1990. Laut DDR-Nachrichtenagentur zugereiste Wessis. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0115-032 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0 |
Meine ersten Nicht-Naziskins
Es war eine Klassenfahrt auf die Ostseeinsel Rügen. Wir fuhren im Jahr 1991, knapp anderthalb Jahre nach der Wende. Wir als 15jährige Niedersachsen sollten die deutsche Einheit feiern. Uns war das herzlich egal. Aber unseren Lehrern lag daran. Wir fielen als Touristen in einen Landstrich ein, der noch nicht wirklich darauf vorbereitet war. Die Leihräder hatten wir in Verbindung mit den Rüganer Feldwegen in zwei Tagen in ihre Einzelteile zerlegt. Die ein- oder andere Gastronomie war einer Gruppe Westdeutscher Jugendlichen und deren Ansprüchen nicht gewachsen.
Neben kaputten Fahrrädern und überforderten Kellern blieb aber vor allem eines in Erinnerung: die Gruppe männlicher kräftiger Jugendlicher, die sich am Zaun unserer Jugendherberge versammelte und wartete, bis endlich mal ein Wessie zum Vermöbeln rauskam. Das waren ausweislich ihrer Kleidung noch keine Nazis. Aber nach dem zu urteilen, was sie uns zuriefen: ihre Gedankenwelt schien nahe.
Eine Freundin, Trampen auf Rügen 1994, erzählte, dass sie eine interessante Mitfahrt hatte. Bei ihrem Fahrer hat sie das Eiserne-Kreuz-Tattoo zu spät bemerkt, ebenso dann die eindeutige Musik im Kassettendeck. Wirklich mulmig wurde ihr, als er ihr die (Schreckschuß?)-Pistole im Handschuhfach zeigte. Es waren wilde Zeiten. Umso erstaunlicher, dass sich die Szene in wenigen Jahren so stark entwickeln konnte von pöbelnd-gewaltbereiten Jugendlichen hin zu organisierten und bewaffneten Nazis.
Inoffizielle Naziskins
Wann die ersten Naziskins in der DDR auftauchten, lässt sich im Nachhinein nicht mehr sagen. Während es einen untergründigen Faschismus mit Hitler-Geburtstagsfeiern, Verachtung gegenüber Ausländern, und spontaner unorganisierter Gewalt gegen „Andere“ die gesamte DDR-Zeit hindurch gegeben hatte, so fehlten diesem doch Gelegenheit und Möglichkeit sich zu organisieren.
Eine echte Skinhead-Szene mit engen Verwicklungen zu Neonazis entwickelte sich seit Anfang der 1980er.
Die Skinhead-Szene war ähnlich der britischen Ursprungsszene anfangs recht offen. In der Szene bewegten sich sowohl unpolitische wie auch faschistische und einige linke Skins. Im Laufe der 1980er bildeten sich insbesondere auf Seiten der Neonazi-Skinheads Strukturen durch die ganze DDR hindurch.
Die Skins waren gegen den Staat, damit in der DDR gegen den Kommunismus und gegen den staatlichen Antifaschismus. Wenn der Staat sich selbst als antifaschistisch definiert und eine Szene gegen den Staat ist, kommt sie schnell zum Anti-Anti.
Organisierte Faschisten sahen hier einen glücklichen Ansatzpunkt. Hier engagierten sich sowohl die einheimischen Neonazis wie auch soweit möglich Neonazis aus Westdeutschland und Westberlin. Die Folgen dieses Gebrodels ließen sich deutschlandweit Anfang der 1990er beobachten. Allerdings begann es früher.
Seit etwa 1982/1983 übernahmen die Skins die Vorherrschaft in der DDR-Subkultur von den Punks. Teilweise wurde hier auch schon massiv Gewalt gegen die Punks eingesetzt – aber auch innerhalb der Skinszene. Seit etwa 1985/1986 begannen die Skinheads sich Opfer außerhalb der eigenen Szene zu suchen und gingen gegen Ausländer, Schwule, Gruftis und andere Minderheiten vor.
Die Skins waren in einigen Gegenden, insbesondere in Berlin und dem Bezirk Potsdam auf der Straße zu sehen – wirklich wahrgenommen wurden sie außerhalb der Jugend und durch potenzielle Opfer kaum.
Eine Beschäftigung mit der Szene innerhalb der DDR setzte Mitte der 1980er ein. Seit dieser Zeit begannen sich Jugendforscher an der Humboldt-Uni mit dem Thema Skinheads auseinanderzusetzen, natürlich strikt unter Verschluss und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Schätzungen gingen zu der Zeit davon aus, dass die Zahl der „Skinhead-Rowdys“ im drei- bis niedrig vierstelligen Bereich lag.
In Westdeutschland bekannt wurde die Szene vor allem auf dem Überfall auf das Konzert der Band Element of Crime am 17. Oktober 1987 in der Ostberliner Zionskirche. Angesichts der irren Systemlogik der DDR bedeutete, dies, dass die Skins nun auch ein Thema innerhalb des Staates waren – immerhin hatten die Westmedien darüber berichtet.
Offiziell sagte der DDR Staat nichts relevantes zum Überfall auf die Zionskirche. Aber es gab einen Prozess mit hohen Strafen. An diesem Punkt begann das Ministerium für Staatssicherheit die Szene ernst zu nehmen.
Offizielle Naziskins
Wenig später kam dann der Zeitpunkt, an dem die DDR auch von „Skinhead-Rowdys“ mit Hitler-Symbolen innerhalb der eigenen Grenzen sprach: dem Mai 1988. In Velten, nordwestlich Berlins, nicht unweit unseres Brandenburger Bungalows. Der Staat reagierte damit auf ein Ereignis aus dem vorherigen Herbst.
Es war der 1. November 1987. Eine Skinheadszene in der DDR existierte ebenso bereits seit einigen Jahren wie auch eine Szene an Naziskins. An diesem Abend, in der Kneipe Weimann, allerdings eskalierte es so sehr, dass der Staat nicht mehr wegschauen wollte.
Die Kneipe Weimann - gelegen in Velten einer Kleinstadt mit etwa 8.000 Einwohnern nordwestlich von Berlin. Die Stadt liegt am Hang des Ländchen Gliens hin zur Havelniederung. An diesem Hang kommt man besonders gut an Ton, der dann die Havel entlang nach Berlin geliefert wurde, um Ziegel und Ofenkacheln zu fertigen.
Velten verdankt seine Existenz als Kleinstadt diesem Ton und den Berliner Abnehmern. Dann die Mauer. Dort wo der wichtigste Verkehrsweg nach Berlin war, war nun Westberlin. Aus Sicht der Brandenburger Gemeinde: das Ende. Eine Gemeinde im städtischen Umkreis ohne direkte Verbindung zur Stadt.
Das Nichts lag in beide Richtungen, Ostberlin war nur über Umwege erreichbar. Dennoch existierte eine kleine Industrie, die sich aus Zeiten des Tonabbaus halten konnte. Ob sie eine Zukunft hatte? Ob es eine überhaupt eine Zukunft hab? In diesem Staat, dessen Existenz Ende der 1980er von Jahr zu Jahr mehr verblasste. Velten 1987: wohnen im vielfachen Nichts.
Etwa 100 Jugendliche aus den einschlägigen Szenen hatten so getan, als wollten sie ein Klassentreffen veranstalten. Tatsächlich aber war es ein eindeutiges Szenetreffen zum „Gesamtsturm Velten-Oranienburg“. Die Jugendlichen und jungen Männer waren bereits vorher regelmäßig unter Alkoholfluss randalierend und prügelnd durch die Gegend gezogen. Vom Velten über Borgsdorf, nach Potsdam, Birkenwerder, Hennigsdorf oder Lehnitz. Berüchtigt waren sie bereits regional für ihre wiederholten Angriffe auf Menschen in Zügen und Bahnhöfen.
Der Überfall
„Die Stimmung war ausgelassen, es wurden Nazilieder gegrölt und „Sieg Heil“ gebrüllt.“ Der Wirt war angesichts der hundert feiernder Skins entweder furchtlos oder litt an eingeschränkter Realitätswahrnehmung. Auf jeden Fall legte er sich mit seinen Gästen an. Die sperrten ihn in den Keller und feierten weiter.
Der Wirt befreite sich und rief die Polizei. Es kam zu Rangeleien, ein Polizist schoss in die Luft, wurde von Jugendlichen entwaffnet und krankenhausreif getreten. Den Einsatzwagen der Volkspolizei demolierten die Skins mit einem Bombardement von Betonplatten. Die Jugendlichen zogen weiter randalierend zum Bahnhof.
Erstmals reagierte der Staat in größerem Maßstab und begann eine intensive polizeiliche Verfolgung der Szene. 94 Skinheads wurden DDR-weit von der Polizei festgesetzt. Die offiziellen DDR-Medien berichteten erstmals überhaupt von dem Problem.
Zum Prozess kam es im Mai 1988 vor dem Kreisgericht Oranienburg. Es handelte sich mit neun Angeklagten um den größten der acht Prozesse, den die DDR noch gegen Naziskins führte und den ersten, bei dem die politische Gesinnung im Prozess selbst behandelt wurde.
In der Jungen Welt
Insbesondere oblag der Zeitschrift für die Jugend, der Jungen Welt, die Aufgabe, den Prozess wiederzugeben und im Sinne des Staates zu interpretieren. Hierbei schrieb der Autor Frank Schumann. Er berichtete, dass die Jugendlichen sich teilweise für mehrere hundert Mark Bomberjacken und Springerstiefel besorgt haben. Die Männer, teilweise gute Schüler, hätten die Skinhead-Kultur im Fernsehen kennengelernt und sich nach eigenen Aussagen nichts weiter dabei gedacht, dass Hitlergruß, Hakenkreuz und anderes hier eine Rolle spielten.
Die im Staat gewünschte Interpretation des Geschehens verfasste Schumann an einem prozessfreien Tag. Er hatte sich selbst unter dem Namen „Christine W.“ einen Leserbrief geschrieben, der anzweifelte ob der Westen allein schuld war. Schumann "antwortete" auf diesen Brief unter seinem eigenen Namen:
„Liebe Christine.. Nicht ein einziger Jugendlicher wäre auf die Idee gekommen, sich die Haare stoppelkurz zu scheren. wenn es dafür nicht Vorbilder in Westeuropa gäbe. […] Skin zu sein ist zugleich ein Bekenntnis zu praktizierter Gewalt. […] Die Vermittlung solcher Verhaltensweisen […] sind weder Bestandteile des Schulunterrichts noch der Lehre noch Gegenstand hiesiger Medien. Woher also kennt man das alles? […] in allen Erklärungen tauchte stets ein bestimmter Westberliner Sender auf.“
Warum die DDR ausgerechnet hier und jetzt ihre Skinszene thematisierte, scheint noch nicht erforscht. Der Gedanke liegt nahe, dass die DDR-Oberen nach dem Überfall auf die Zionskirche den Eindruck hatten, das Thema nicht mehr komplett totschweigen zu können und nun einen Schuldigen – natürlich den Westen – benötigten.
Dabei ging das Gericht auch detailliert darauf ein, dass die Angeklagten sich in Kleidung und Habitus an westdeutschen Skinheads orientierten. Ebenso ging es auch ausführlich darauf ein, dass es sich hier um Neonazis handelte, da sie offensichtlich faschistische Symbole führten. Auch hier vermuteten Gericht und Presse naturgemäß, dass es sich um westliche Importe handelte, die in der DDR importiert und imitiert würden.
Die Angeklagten selber
Die Angeklagten selber brüsteten sich noch damit, Skinheads zu sein „Wir sind hässlich, gewalttätig und brutal.“ Allerdings wollte sie keine Nazis sein. Zwar hätten sie das Hakenkreuz getragen und den Hitlergruß gezeigt, eigentlich jedoch seien sie unpolitisch. Sie hätten die Symbole einfach aus dem Westen übernommen ohne darüber nachzudenken, was sie bedeuten.
Eine Deutung, bei der sie blieben. Die örtliche Regionalzeitung hat 25 Jahre nach dem Überfall noch einmal einen der damals beteiligten und Bernd Wagner, Experte für Wendezeit-Rechtsextremismus, an einen Tisch geholt. Und derjenige sagt problemlos, dass es bei der Feier zu Gewaltexzessen kam und er zu Recht im Knast saß. Aber Nazi sei er damals nicht gewesen.
Interessanterweise führten die Skinheads auch Werte wie Fleiß, Ordnung und Disziplin als prägend an – was bei einer Gruppe junger Männer, die vor Gericht stehen, weil sie betrunken prügelnd durch die Straße zog, immer wieder überraschend ist.
Die Staatsanwaltschaft forderte hohe Haftstrafen. Das Gericht verhängte diese am 11. Mai 1988. Neun Beteiligte kamen zwischen 1 3/4 und 6 1/2 Jahren in Haft. In der Urteilsbegründung ging das Gericht unter anderem darauf ein, dass die Angeklagten die Skinheadkultur aus dem Westen kopiert hätten obwohl ihnen bewusst war, dass diese brutal und neonazistisch war.
Nachleben
Während bereits in den 1980ern Westdeutsche und Westberliner Neonazis unter der Nachlassenden Fähigkeit der DDR, ihre Bürger zu kontrolieren, begannen, Kontakte nach Ostberlin, Brandenburg und in die DDR zu etableren, konnten sie Chaos und Offenheit der Wendejahre nutzen, um dies massiv voranzubringen.
Die Skinheadszene existierte weiter. Gerade in den 1990ern verschwamm in Oranienburg, Velten und Umgebung Faschismus, Gewalt und Kriminalität. In Oranienburg kam es am 21. April 1993 zu einem Anschlag. Dort flog das Auto eines Sozialarbeiters nach einem Bombenanschlag in die Luft nachdem dieser einem Mitarbeiter(!) eines Jugendzentrums Hausverbot erteilt hatte, weil der Mitarbeiter immer wieder Nazisprüche von sich gab.
Am 6. August 1994 kam es wieder zu einem größeren Vorfall als drei Skinheads einen Radfahrer ausrauben wollen. Die Männer, 17 und 18 Jahre alt, zu Zeiten des Weimann-Prozesses also etwa 10 gehörten zur neuen Generation der Naziskins, die sich in Auftreten und Verhalten offensichtlich wenig von der alten Generation unterschied.
Es beginnt als Überfall aus den Radfahrer Gunter Marx. Als dieser kein Geld bei sich hat, erschlägt ihn Maik L. mit einem Schraubenschlüssel. Danach überfallen die Skinheads zwei weitere Menschen auf der Straße. Die Polizei findet Maik L., auf den schon einen Haftbefehl wegen weiterer Überfälle lief. Bei ihm befand sich ein Baseballschläger mit „Sieg-Heil“-Aufschrift
(Mehr Details zum Überfall auf Gunter Marx.)
Mitte der 1990er berichtet ein Sozialarbeiter, der versuchte in den 1990ern ein Sozialprojekt gegen Nazis zu starten
Erfreuliches Nachleben. Im benachbarten Kremmen findet seit einigen Jahren mit dem Resist to Exist das größte Punk/Antifa-Festival Deutschlands statt |
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Auf die Geschichte aufmerksam wurde ich überhaupt erst durch das Buch „Futur Exakt – Jugendkultur in Oranienburg zwischen Rechtsextremer Gewalt und Demokratischen Engagement“, Verlag Hans Schiller. Ein auch sonst spannendes Buch, versuchen die Verfasser doch tatsächlich dort mit den Nazis ins Gespräch zu kommen, wo sie sind; nachts an der Tankstelle herumhängend.
Natürlich erfolglos; Berliner Politikstudenten integrieren sich nur schlecht in Brandenburger Neonazikreise. Aber die Mischung aus umfangreicher Hintergrundrecherche und dem an-der-Oberfläche-Kratzen, die sie hinbekamen liest sich spannend.
Futur Exakt – Jugendkultur in Oranienburg zwischen Rechtsextremer Gewalt und Demokratischen Engagement |
Eine ausführlichere Schilderung des Prozesses steht in Klaus Farin, Eberhard Seidel: Skinheads, Becksche Reihe. 2010. Bernd Wagner verfasste: Rechtsradikalismus in der Spät-DDR: Zur militant-nazistischen Radikalisierung. Wirkungen und Reaktionen in der DDR-Gesellschaft. Dort las ich zwar nur ein wenig in Google Books herum. Das allerdings machte einen guten Eindruck. Und Wagner weiß nun wirklich wovon er schreibt
Auch einen längeren Text über die Entwicklung des Neofaschismus in der DDR bietet Norbert Maloch in seinem Aufsatz erschienen in einem Buch der die Rosa-Luxemburg-Stiftung-Sachsen:, hg. Von Klaus Kinner und Rolf Richter
Das Haus der Demokratie in Prenzlauer Berg betreibt eine eigene Website zum Thema Nazis in der DDR.
Spannender Artikel aus der moz, der örtlichen Lokalzeitung, in dem sich die drei damals Verurteilten und Bernd Wagner 25 Jahre nach dem Vorfällen trafen und über das Geschehen sprachen. Nach Meinung der drei damals beteiligten war es eine „normale“ Privatparty, die eskalierte und die vom DDR-Regime, dann unbedingt auf Nazis gebürstet werden sollte.
Mittlerweile findet nahe Veltens in Kremmen das größte linke Musikfestival Deutschlands statt: Resist to Exist – the Kids are alright.
Fast gleichzeitig mit den Naziskins in der DDR entwickelte sich in Washington, DC die Go-go-Szene.
Und auf mein Leben hatten die Naziskins einen gewissen Einfluss: Kleinstadt-Antifa 1994.
Alle Posts zum Thema Velten und Umgebung: Kleintierzoo.
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