Überhaupt beweisen die drei Frauen den ganzen Flug über, dass auch Schweizerinnen eines Benehmens fähig sind, dass ich am ehesten von Engländern in Mallorca erwartet hätte. Aber okay. Nur, dass die kleinste und schmalste von ihnen mir ihre Rückenlehne in die Knie rammt, nehme ich persönlich.
Die Schweiz
Willkommen, in der Schweiz, die bei diesem Besuch einige meiner Vorurteile aus dem Wege räumt.
Blick in die Wikicon-Räume |
Da waren die drei jungen Damen im Flugzeug. Oder die SBB, die Schweizer Bahn, die bei zwei von zwei genommenen Zügen Verspätung hatte und mir damit noch einen Gepäcksprint durch den Zürcher Hauptbahnhof bescherte. Oder Sankt Gallen, das direkt vor den Eingang der renommierten Kantonsschule am Burggraben den Tiffany Night Club setzte. Allgemein wies St. Gallen ein Nachtleben auf, dass ich eher in Friedrichshain erwartet hätte.
Blick aus dem Eingang der Kantonsschule. Rechts "Kirche neu erleben." Links der "Tiffany Night Club." |
Manchmal aber bestätigte die Schweiz die Vorurteile.
So brauchte ich sowohl bei der Bahn als auch im Hotel – beide schon bezahlt – eine Kreditkarte. Insbesondere bei der SBB „Für Ihre Zahlung in Höhe von null Franken geben Sie bitte eine Kreditkarte ein.“ „Bö! Diese Kreditkarte ist nicht gültig, da SecurePay nicht aktiviert ist! Sie können Ihre Zahlung von null Franken nicht tätigen.“ Neue Kreditkarte. „Diese Kreditkarte gilt. Leider ist die Zeit abgelaufen. Ihre Bestellung wurde automatisch beendet!“
Und dann begegnete ich den beiden mittelalten und distinguiert angezogenen Damen, die sich auf die Vierergruppe im Zug stürzten und mir gegenüber zwar höfliches aber doch deutliches Territorialverhalten zeigten, als ich im vollen Zug dieselbe Sitzgruppe ansteuerte. Selbst mein Hinweis, dass ich reserviert hatte (und sie nicht) ließ sie eher missmutig einen Dreiviertelsitz der vier Sitze räumen.
Zu diesem Zeitpunkt mochten SBB und ich uns noch. Bahnhof Zürich Flughafen. |
Immerhin, ich bestaunte ein Gespräch, dass sich eine Stunde lange fast durchgehend über einen Kroatien-Urlaub drehte, viel von Pools, Hotelessen und charmanten Aktionen erzählte – und nicht ein Kroate kam darin vor, nichts über Krieg und Vergangenheit, nicht einmal der floskelhafte Nebensatz, dass das schlimm war mit dem Krieg – die einzige Mitteilung in dieser Stunde Urlaubsschilderung, die vage an reales Leben erinnerte war die Information, dass es in Dubrovnik viel zu viele Touristen gibt.
Sonst bewegten sich die beiden distinguierten Damen komplett in ihrer Welt aus aparten Pensionen, charmant gelegenen Pools und ihren Wanderschuhen. Ich glaube, vor die Wahl gestellt, würde ich dann doch die „Kas!“-Esserinnen auf die Dauer als Begleitung vorziehen.
Wikicon
Aber ich muss nicht wählen! Denn in St. Gallen erwartete mich die Wikicon, und damit eine ganze Schule voller Wikipedianerinnen und Wikipedianer. Die waren wie immer im Real Life ausnehmend freundlich und aufgeschlossen, gerade auch die aus der Schweiz. Ich erinnere mich an das abendliche Gespräch mit der langjährigen Wikipedianerin, die auf ihrer ersten Wikicon war – und hellauf begeistert davon wie zwanglos sich Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten miteinander mischten.
Vermicelles gab es gedruckt und in real. |
Die Wikicon, die Wikipedia-Convention, findet einmal jährlich an wechselnden Orten in Deutschland oder Österreich statt und dieses Jahr erstmals in der Schweiz.(*) Veranstaltungsort war die Kantonsschule am Burggraben in der Innenstadt St. Gallens in der Ostschweiz. Eine renommierte - und der Inneneinrichtung und Ausstattung nach zu urteilende nicht arme Schule – aber dennoch eine Schule.
Für die Wikicon bedeutete dies quasi eine Rückkehr zu den Wurzeln. Fand die Wikicon in den letzten Jahren in Museen, Universitäten und Veranstaltungszentren statt. Die allererste Wikicon 2010, damals noch unter dem Namen Skillshare, begab sich jedoch in eine Schule.
Freiwillige Helfer. Wie immer verdient Ihr höchsten Respekt. Bild: Wikicon St. Gallen. Von: Burkhard Mücke Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license. |
Angemeldet waren dieses Jahr etwa 320 Teilnehmerinnen. Beim einzigen Großevent dieser Wikicon, an dem ich teilnahm, der Eulen-Verleihung zählte ich gut 200 Menschen im Saal. Die beste Chance auf einen Überblick bittet das Gruppenfoto:
Das Gruppenfoto Bild: Das Gruppenbild der WikiCon 2018 in St. Gallen Von: Martin Kraft. Lizenz: freie Lizenz CC BY-SA 3.0 |
Ganz unglaublich nette und unfassbar wissende Menschen liefen in St. Gallen herum, wie immer. Die Schulzimmeratmosphäre mit dem Gürteltierpanzer an der Wand, den Molekülmodellen und der historischen Anatomiezeichnung eines Hummers beispielsweise trug viel zur Atmosphäre bei. Viel Spannendes erfuhr ich nebenbei aus der Wikiwelt und in meinem kleinen Notizbüchlein stehen auch schon drei halbe Pläne für größere Aktionen in nächster Zeit.
WikiEulen nach St. Gallen tragen
Neben der eigentlichen Konferenz, die wir immer in den Gängen und an der Kaffeemaschine stattfand, existierte auch ein Rahmenprogramm mit Workshops, Vorträgen und Diskussionen.
Den glanzvollen Höhepunkt bildete die WikiEulen-Verleihung, eine Art Grammys der Wikipedia. An deren Entertainmentwert besteht weiterhin Verbesserungspotenzial. Sie war aber kurzweilig und straff geführt. Die ungefähr 60 Laudatios auf 60 Wikipedianerinnen und/oder Projekte und deren Aktivitäten boten einen Überblick darüber, was im letzten Jahr alles in Wikipedia passierte – und es war viel.
Gerade wer Wikipedia nach außen darstellen möchte und von den üblichen zwei Themen weg möchte und etwas repräsentativer werden möchte, was Wikipedia ist und macht – der wird hier fündig. Highlight der ganzen Verleihung natürlich der mit dem Quintett mit Motmel, Gereon, Gnom, Rogi und XAnonymusX, das den Walzer Nr. 2 von Shostakovich und Gli Ucceli von Bernardo Pasquini/Ottorino Respighi (mit Eulenimprovisation!) spielte.
Fünf Musiker. Und wie der Typ auf die Bühne gekommen ist? Bild: Wikicon in St. Gallen von: Burkhard Mücke Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license. |
Programm im eigentlichen Sinn
Weniger glanzvoll als dieses Quintett waren die Workshops und Diskussionen.
Mein Workshop-Beitrag lieferte die Teilnahme am Wikipedistischen Quartett. Achim initiierte die Wiederbelebung einer alten Tradition. Wikipedianer unterhalten sich nur und ausschließlich über Artikel und deren Qualität. Kein Metakram, keine Programme, keine Projekte, einfach nur Artikel. Achim, Gestumblindi, MatthiasB und ich sprachen über die Artikel zu einer Hinterhof-Moschee im Wedding, dem Polcevera-Viadukt in Genua, Maurice Gamelin (dem Oberbefehlshaber Frankreichs zu Beginn des Zweiten Weltkriegs) und der militärischen Situation Islands. Mir als einem der vier Quartettanden war dies ein einziges inneres Feuerwerk. Genau so macht Wikipedia Spaß.
Mein Session-Besuch-Plan „Nimm-die-Veranstaltung-bei-der-Du-am-wenigsten-Vorstellung-hast-was-Dich-erwartet“ führte mich in die Session mit Moritz Schubotz zum Thema Freies Wissenschaften: Wie passen Forschung und Wikimedia zusammen?. Die eigentlich ebenso im Programm stehende Sarah Behrens von Wikimedia Deutschland war ausgefallen. Schubotz vertrat nun sich selber (Abteilung Forschung) als auch Wikimedia Deutschland (als fördernde Institution) und stellte das Programm Fellow Programm Freies Wissen vor. Dann sprach er detaillierter über sein eigenes eCoaching-Projekt.
Beim Fellow-Programm bekommen Nachwuchswissenschaftler ein Stipendium und müssen/dürfen sich dafür über Freies Wissen mentieren lassen. Ich will nicht sagen, Schubotz war putzig, denn das wäre herablassend. Aber dieser jugendliche Enthusiasmus, weit entfernt von allem Zynismus oder Sarkasmus, war herzerfrischend.
2030 wird Wikimedia das Fundament im Ökosystem des Freien Wissens sein
Gestolpert bin ich beim Lauschen des Vortrags über den Satz "2030 wird Wikimedia das Fundament im Ökosystem des Freien Wissens sein". Dieser Satz entstammt der Strategie der internationalen Wikimedia-Bewegung, ist also vermutlich lange und ausführlich diskutiert und deliberiert worden. Und sofort stehen mir als jemand, der in letzter Zeit etwas mit einem naturnahen Garten und Gartenhäusern zu tun hatte, ein Ökosystem und ein Fundament vor Augen. Und sofort denke ich „die Bilder passen nicht. Ökosysteme haben gar keine Fundament!“ Tatsächlich sind Fundament (quadratisch, geplant, entworfen, am besten wenn sie keinerlei Veränderungen und Umwelteinflüssen unterliegen) und Ökosysteme was ganz verschiedenes.
Und abgesehen davon, dass der Satz damit mehr Gaga ist, als ein Satz einer Strategie sein sollte. Vielleicht liegt hier das Problem, das Wikimedia gerne das quadratisch-praktisch-einfache in einer klaren Welt mit oben und unten, links und rechts wäre, wo doch die Umwelt chaotisch ist, kein Anfang und kein Ende hat, sich dauernd verändert, sich dauernd auch wechselnde Umweltbedingungen einstellen muss. Vielleicht trifft das extrem schiefe Bild in seiner Schiefe die Realität.(**)
WikiWedding und Betriebsrat
Die von mir besuchten Lightning Talks waren keine Lightning Talks, denn es gab nur einen: WikiWedding. Die beste Veranstaltung natürlich und das beste Projekt. BotBln führte einmal durch die letzten Jahre, was Wikipedia in Berlin-Wedding machte. Und auch wenn ich als Ex-Initiator natürlich voreingenommen bin: dass das Projekt immer noch läuft und macht und was es macht, es ist der Wahnsinn.
Im nächsten Talk stellte Sebastian Wallroth seine Idee vor, das Konzept Betriebsrat auf Wikipedia anzuwenden. Er stellte seine Erfahrungen aus der Betriebsratsarbeit vor und betonte, dass es eben nicht nur darum geht, dem Arbeitgeber die Stirn zu bieten, sondern sich auch institutionalisiert und verbindlich um Themen wie die Vertretung von Jugendlichen oder Schwerbehinderten zu kümmern oder um den Arbeitsschutz (Burn Out war hier ein Begriff, der mehrfach die Runde machte). Es wirkte inspirierend.
Nun hat die Betriebsratsmetapher ihre Grenzen. Der Betriebsrat wurde einst erfunden, um dem übermächtigen Allesentscheider Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen. Bei Wikipedia hingegen besteht das Problem darin, dass überhaupt niemand verbindliche Entscheidungen treffen kann; folglich auch nie verbindliche Entscheidungen getroffen werden.
Aber der Gedankenansatz war originell, die angesprochenen Probleme real. Die Idee, mehr Verbindlichkeit in der Wikipedia zu schaffen, ist eine Gute. Ich bin gespannt, was daraus wird.
Kaffee
Es gibt keinen Wikipedia-Veranstaltungs-Blogpost von mir ohne einen Einblick in die örtliche Kaffeesituation. Er kam aus Kapselmaschinen. Die stets weit weg waren, Unmengen von Verpackungsmaterialien erforderten und zwischendurch hatte ein Fernsehteam den Gang zur einzigen zu der Zeit noch verkapselten Kaffeemaschine ganz gesperrt.
Meine Versäumnisse
Für St. Gallen selber hatte ich keine Zeit. Und das war so absehbar, dass ich nicht einmal vorher recherchierte, ob diese Stadt ein Schwimmbad besitzt. Nur an @maeusehauts Hinweis von vor Monaten an das Städtische Gemeinschaftsbad St. Gallen erinnerte ich. Aber ach.
Mit halbem Blick erblickte ich das Goliath-Stübli, ob der interessanten Leute, die freitagabends davor standen. Auch hier blieb nur nachträgliche Internetrecherche. Die aber machte Lust auf mehr. St. Gallen, ich muss wieder kommen, allein für das Bad und die Kneipe.
Heimfahrt mit Maigret und Rivella. |
Weiterlesen
Einen persönlichen Bericht zur Wikicon 2018 schrieb Atamari im Wikipedia-Kurier. Atamari reflektiert über die Wikicon 2018. Sonst habe ich bisher leider keine ausführlicheren persönlichen Rückblicke gesehen.
Die erste Wikicon fand 2011 in Nürnberg statt. Ich besuchte: KuschelCon in Nürnberg. Die WikiCon 2011.
Nun habe ich es nicht in das Bad St. Gallen geschafft. Das wundervollste aller Freibäder steht allerding eh schon in der Schweiz: das Naturbad Riehen (bei Basel)
Alle Iberty-Posts zum Thema ausgehen und zur Bildung finden sich unter Kultur in Iberty! Eine Übersicht.
Anmerkungen
(*) die eine Österreich-Wikicon war allerdings in Dornbirn in Vorarlberg, was gefühlt schon halbe nicht-mehr-Österreich und irgendwie-auch-Schweiz und vor allem Vorarlberg ist.
(**) Auf Englisch, im Original, lautet der Satz „By 2030, Wikimedia will become the essential infrastructure of the ecosystem of free knowledge” Ich gebe zu, eine “essential infrastructure” ist nicht dasselbe wie Fundament. Aber in Bezug auf ein Ökosystem ist das eine Bild genauso gaga wie das andere und in Bezug auf das Spannungsfeld geplant/geordnet vs. wild stehen beide Metaphern in dieselbe Richtung schief. Da lobe ich mir die deutsche Übersetzung, die immerhin das nichtssagende Buzzword vermeidet.
(***) Und wo ich dabei bin. Auch spannend an der Übersetzung. Im englischen steht dort "free knowledge"; beides kleingeschrieben und damit ist free ein adjektiv, das sich einfach auf knowledge bezieht. Also es geht um das Wissen, das die Eigenschaft hat frei zu sein. Im Deutschen steht dort "Freies Wissen" - beides ist groß geschrieben. "Frei" ist kein Adjektiv mehr, sondern "Freies Wissen" ist ein feststehender Ausdruck. Es geht nicht um das Wissen allgemein, sondern um "Das Freie Wissen" - ein Begriff den meines Wissens nur WMDE benutzt und quasi zur Raison d'Être seiner selbst gemacht hat,
Das mit dem Kaffee kann ich so nicht stehenlassen: Bei der Küche (neben der Essenausgabe) gab es eine geniale und sicher sauteure Kaffeemaschine ganz ohne Kapseln, die neben Spezialitäten wie "Iced brûlée cappuccino" sogar kalte Erdbeermilch zaubern konnte. Letzteres wurde auch recht intensiv getestet.
AntwortenLöschenMift! Wie konnte mir eine Kaffeemaschine entgehen!
AntwortenLöschenIch hoffe wir konnten Dir bei Deinem Aufenthalt in der Schweiz beweisen, das man hier auch bei Schlechtwetter tolle Ausflüge machen kann. Wir haben nämlich sehr viel zu bieten. Die meisten wissen es aber nicht, und das ist sehr schade.
AntwortenLöschenDanke für den Bericht
Gerne und immer. Und ja, die Schweiz ist spannend. Auch wenn ich bei diesem Ausflug neben der Konferenz nicht allzuviel sah. Der Teil, den ich sah, machte Lust auf mehr. Leider aber muss die Schweiz sich noch weiter an das deutsche Einkommensniveau annähern, damit ich öfters komme.
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