Abbaden in der Nordsee Dithmarschen

Nordsee-Sonnenuntergangs-Baden im Herbst; Stinteck-Wesselburenerkoog..

2017

Dieses leichte Stechen im Oberschenkel, wenn das kalte Wasser kalt bleiben möchte. Die Herbstsonne strahlt über den Deich und die letzten Strandkörbe. Die Reste des ersten Herbststurmes im Jahr 2017 wurden bereits weggeräumt. Jetzt zeigt sich ein Dithmarscher Spätsommeridyll aus grünem Deich, dem Imbiss neben der Deichkrone, einer einsamen Dusche und plätscherndem Wasser, das bei Hochwasser gegen die Steine des Böschungsschutzes pfumpt. Gelbe, in der Sonne leuchtende Andreaskreuze markieren die Stellen, an denen Schwimmer auf die Buhnen achten sollten. Das Meer lädt ein.

Nordsee bei Stinteck. Hohes Hochwasser.

Dennoch: September. Die Wärme der Sonne reicht für die obersten zwei Zentimeter des Wassers. Danach fängt das leichte Stechen an. Es geht auch nach fünf Minuten im Wasser nicht weg. Es ist kalt. Einige Schwimmzüge helfen. Das Salz treibt nach oben, der kaum zu spürende Wellengang macht keinen Unterschied. Eine einzelne abgerissene Alge treibt vorüber.

Eine Radfahrerin unterhält sich mit Madame, die gerade versucht per kalter Dusche Temperaturgewöhnung zu betreiben. Sie beschwert sich, dass es hier flach ist. Ist es gar nicht. Nicht, wenn man den höchsten Punkt der Flut abpasst und dann auch noch harten festen Sand unter den Füßen erwischt.

September 2017. Die drei letzte Strandkörbe und das Meer.

Leichtes Schaukeln des Wassers. Kämpfen mit dem Auftrieb im fast unbeweglichen Salzwasser. Wenn man lang genug wartet, sticht der Kälteschmerz nicht mehr so sehr am Bein, wandert nach oben. Wissen, warum man schwimmt. Schweben in der Weite des Meeres, von oben strahlende Sonne, von schräg oben das Kreischen der Möwe, ein leichter Salzgeschmack auf den Lippen.   

Stinteck, Dithmarschen. Dorf am Deich. Nicht allzu weit entfernt vom Touristenmagnet Büsum und doch mehr ein Strand, 20 Ferienhäuser und ein halbes Dutzend Restaurants und Bistros. Der nächste Supermarkt oder Bäcker sind in Autoweite oder die Brötchen-werden-kalt, das Eis-fängt-an-zu-schmelzen-Fahrradweite entfernt. Einer dieser seltsamen Dithmarscher Unorte, deren komplettes Leben aus vorbeiradelnden Pärchen im Partnerlook besteht.

2018

Es war ein langer Sommer im Jahr 2018. Es war ein heißer Sommer dieses Jahr. Die Nordseekälte sticht auch Mitte September nicht. Selbst im Sonnenuntergang wagt sich noch der ein oder andere Mensch in das Meer. Im Wesselburenerkoog zieht es sie vor allem mit ihren Hunden in das Wasser.

Nordsee Wesselburenerkoog September 2018

Aber auch hier: Menschen aus Bayern, die mich ungläubig anstarren – „Sie schwimmen hier jetzt?“ – „Yup“. Nein, es ist nicht zu kalt. Nur zu flach. Anscheinend herrscht Nipptide. Nachdem ich mehrere Hundert Meter ins fast windstill-unbewegte Wasser gelaufen bin, gebe ich auf. Auch im knietiefen Wasser lassen sich einige Meter schwimmen. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht mit Knien oder Ellbogen über den Boden schramme.

Badestelle Wesselburenerkoog mit Salzwiese

Wo die Krebse dieses Jahr alle herkommen? Weder in Wesselburenerkoog noch in Stinteck traf ich je soviel Kleingetier. Oder um genauer zu sein: sie treffen mich. Sie rennen gegen meine Füße. Es fühlt sich seltsam an. Bei einem besonders großen Rumms mache ich mich dann auf zum Schwimmen. Einige Zentimeter Höhen-Abstand zwischen mich und die Krebse legen. Auch wenn ich schwimmend den Sonnenuntergang nur mehr erahnen kann.

Die Sonne senkt sich hier in Stinteck. Der Ausflug nach Büsum war kurz – vielleicht der schönste Strand, aber auch das meiste Remmidemmy. Selbst jetzt noch in der Nachsaison am Abend herrscht bunter Trubel in der Stadt und am Strand. Das ist erfreulich für Büsum, welches den Turnaround von ausgestorbener Rentnerkolonie zu lebendigem Ferienort geschafft hat – nur mag ich in diesem Trubel nicht mehr Autoschlüssel, Handy und Portmonneia alleine am Ufer zurücklassen. Also ging es weiter nach Norden nach Stinteck.

Stinteck (Westerdeichstrich) September 2018

Dort sitzen noch zwei Menschen auf einer Bank. Die Kinder/Jugendgruppe tobt über den Deich, bis die Betreuerin „The Lion sleeps tonight“ auf der Gitarre anstimmt. Der Song weht vorbei an mir den Möwen und den Schwalben, die sich noch am Grasdeich vergnügen. Ist das ein Gänsekeil dort oben? Seltsam so in der Nordsee zu schwimmen bei Hochwasser – fast ohne Strömung und heute ohne Wellen mit warmem Wasser Mitte September.

Tschüss, Nordsee!

Eine Frau im Neoprenanzug bringt einen großen Badereifen. Paddelt damit durch das Wasser. Auch wenn ich es nicht verstehe – es wirkt selbstverständlich. So selbstverständlich wie das Fremde nicht hinbekommen. Auf dem Parkplatz treffe ich sie wieder. Klar, das einheimische HEI-Kennzeichen, für Heide in Dithmarschen. Touris benehmen sich anders.

 

Touris

Touris: Ein komisches Volk. Von den Einheimischen eher aus der Ferne gesehen, denn damit interagiert -es sei denn, die Einheimischen arbeiten im Tourismus. Touris treten oft im Partnerlook auf und haben gerne neue Funktionsjacken an – an der Nordsee ist ja Wetter! – gerne auch in größeren Gruppen. Das Auftreten beschränkt sich auf einige wenige Orte und Wege. Die Hauptstraße in Wesselburen. Den Radweg am Deich. Das Watt vor Büsum. Die Einkaufsstraße in Büsum.

An anderen Orten sehe ich sie nie. Jahreskonzert bei Blau-Weiß Wesselburen in der Sporthalle zum Beispiel. Dafür ist der ganze Ort da. Der Spielmannszug von Blau-Weiß glänzt mit beeindruckenden und technisch anspruchsvollen Drums. Dabei verziehen die Spieler keine Miene. Das unbewegt schauen scheint einstudiert. Ob man lange üben muss, um großartige Musik zu machen und dabei gleichzeitig so komplett uninteressiert zu wirken? Ich kenne doch meine Dithmarscher. So gefühlslos sind sie nicht.

Auch ein Ort ohne Touris: zwischen den Feldern. Wo die Radtouren spannender sind als am Deich. Gräben, Reet. Schafe, Kiebitze, Austernfischer, gerade gezogene Kartoffelfelder, herumliegende Möhren, Erntemaschinen am Einsatz. Wind mal von vorn, von hinten, von links und von rechts. Kurven fahren. Ab und an geht es sogar mal einen alten Deich hinauf, lädt ein zu Meditationen über Deichbau im Mittelalter. Nachdenken über die die ehemals hier – genau hier verlaufende Küste – und warum dieses nun ein paar Kilometer weiter westlich ist, wo sich die Pärchen im Partnerlook tummeln,

Büsum. (Sep '18). Home of the Touri.

 Auf der Rückfahrt halten die Touris dann bei Wischmanns Hofladen. Gelegen praktisch an der Straße zwischen Büsum und der Autobahn. Der schlachtet noch selbst, hat Lamm von der Salzwiese und Rind von der Weide. Zum Herbstanfang: Weißkohl im Fast-Basketball-Format, Spitzkohl den sich ein zwei-Meter-Zwerg als Mütze aufsetzen könnte, „Butterschmelz“-Kohlrabi: Kohlrabi vom Format eines Handballs und laut Internet „nicht holzig“. Dazu Honig, selbst geerntete Zucchini, selbstgemachte Wurst. Ein Highlight für Touristen und Einheimische. Ein Laden, den es ohne Touris nicht gäbe – was ein Verlust wäre.

Wischmann hat auch das Sortiment des Kohlosseums Wesselburen. Kohl und Dithmarschen – eine eigene Geschichte, die ein andern Mal erzählt werden soll. Kohl expandiert. Sauerkraut – das beste der Welt – Kohlmix, Jiaogulan.Kraut. WeKoSal-WEißKOhlSALbe – hilft, aber riecht nach Kohl, WeKoSHAMP Weißkohlshampoo, seit neustem auch Kohl-Brotaufstrich(?!?), Bustouren und ein Kohlmuseum. Ohne Touris nicht denkbar und dank der Touris hat nun Wesselburen das beste Sauerkraut der Welt.

Nicht-Touris

Wo die Touris nicht sind(*): im Hotelsaal mit Blick über den Fluss. H und S heiraten. Bilderbuchhochzeit bei Fast-Sonnenschein. Eine nahezu perfekte Trauung in der ortsangemessen schnucklingen Feldstein-Dorfkirche, auf der Kirchenbank lernen wir M kennen. Die Feier mit Fußballverein, bei uns am Tisch Kanadier und Chinesen und Weimar-Berlin-Eiderstedter mit E-Commerce-Hintergrund. Die reife Dorfjugend an der Schnapstankstelle. Erstaunlich was da auch dünnste Mädchen wegziehen können ohne zu schwanken. Oder auch nicht erstaunlich:  Ich kenne die Gegend ja ein wenig. „Nordisch by Nature“ rockt die Tanzfläche und türlich „türlich türlich“


(Anhören lohnt. Teil-Plattdeutsche Version)

Zwischendurch läuft Abba. Discofox für the win, hier können noch Menschen tanzen. Irish Folk. Selbst das sieht gekonnt aus. Steak vom Husumer Rind, Medaillon vom Landrasseschwein, Nordstrander Kartoffeln. Am Tisch das Gespräch über Mieten in San Francisco und die Sperrung der Potsdamer Brücke in Berlin. Wir wollen die Trauzeugin loben, weil sie Spiele verhinderte, aber sie wollte Spiele – nur das Paar nicht. Danke sehr!  Menschen zu Besuch, Kennzeichen aus Frankfurt, Berlin, Bremen und Hamburg, aber keine Touristen. Dazu viele Kennzeichen aus Nordfriesland. Seltene Mischung

Friedrichskoog

Auch Menschen am Friedrichsköger Ex-Hafen. Einst der Stolz der Kleinstadt, dann weniger benutzt, dann einem Landesentwicklungsplan Schlewig-Holstein zum Opfer gefallen. Das Hafentor wird gerade verfüllt. Der Bagger hat die Arbeit eingestellt. Der Hafen versandet und nun schwappt ein seltsamer untotes Hafenbecken mit unbewegtem Brackwasser, treibenden Zweigen und Möwen vor sich hin. Keine Schiffe. Ein einzelnes Boot, das schon bessere Zeiten sah, und diesen „Hafen“ nie wieder über Wasser verlassen wird.

Man hätte vielleicht eine Art Beelitzer Heilstätten des Wassers daraus machen können schlägt Madame vor. Mit pittoresken Wracks. Eine Idee, die uns und Touris begeistern würde, aber für Einheimische zu weit weg ist. Vielleicht auch zu schmerzhaft, den eben noch lebenden Hafen so zu sehen. Und jetzt ist es zu spät, das Tor zur Nordsee ist zu. Mischgegend: Touris wandeln hier, die gerade in der Seehundstation süße Seehunde geschaut haben. Einheimische auf dem Sonntagsspaziergang am Wasser. Tourisrandbereich. Vielleicht eine der wenigen Gelegenheiten wo sich die Welten wirklich treffen.

Wie in Stinteck. Ich bin schon am Wasser, Madame unter der Dusche wird noch angesprochen: über die Form des Sandbodens aufgeklärt und darüber wie kalt das Wasser ist. Während wir die Karte mit dem Strandeintritt kaufen, wird Siggi von einer einsamen Radlerin angesprochen und es geht um die Kohltage. Der Imbiss neben dem Strand bietet „Seniorenteller 3,90 Euro, auch mit Lieferung“ – das ist nicht für Touristen.

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Es gibt nicht nur das Abbaden, sondern auch das Anbaden.

Wenn das Wasser im Meer nicht da ist, lohnt ein Besuch im Freibad Wesselburen oder im Freibad Hemmingstedt.

Wer gar nicht baden mag, für den empfehlen ich die Tour durch Norderdithmarschen.

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