Freitag, 13. Juli 2018

Der Rotmilan kreist über unserem Garten

Die Sonne schien seit Wochen. Sie zeigte keinerlei Zeichen wieder aufzuhören. Von Regen wussten nur noch die Älteren. Langsam begann der Rasen zu stauben. Das Getreidefeld hinter der Datscha war frühzeitig ergelbt, jetzt schon Mitte Juni.

Wir betrachteten die leeren Regentonnen. Von hinten kam überraschend noch viel mehr Staub herangeweht. Wir standen inmitten einer Staubwolke, die immerhin in der Sonne glitzerte. Hinter diesem verbarg sich der Mähdrescher: Er fuhr Noternte, bevor das Getreide komplett vertrocknete. Während Madame und ich die Strohteilchen aus dem Gesicht wischten und den Haaren zupften, schauten wir noch oben. Dort kreisten sie wieder: die großen, eindrucksvollen Vögel, die so ganz ohne Flügelschlag zu schweben schienen. Die Rotmilane waren wieder da, folgten im sicheren Abstand dem Mähdrescher.


Bild: Milvus milvus (2011-04-17 Switzerland Kanton Schaffhausen Gennersbrunn Von Hansueli Krapf Lizenz:  Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0

Rotmilan, milvus milvus: ein eindrucksvoll aussehender Greifvogel, der sich zu einem Meister des mühelosen Gleitflugs entwickelt hat. Typisch für die Aussicht von unserer Terrasse, wo er immer wieder kreist, und typisch für Brandenburg. Denn hier, quasi direkt an unserer Datscha, liegt ein Schwerpunkt seines weltweiten Verbreitungsgebiets.

Von Harz bis Müggelsee  


Ist das Harzvorland die deutscheste aller Landschaften? Ist der Streit um die Aufstellung von Windrädern der deutscheste aller Streits? Ist der Rotmilan der deutscheste aller Vögel?


Beim Harz als deutschester aller Landschaften mag das Bauchgefühl sagen – vielleicht. Das Mittelgebirge liegt in der nördlichen Mitte Deutschlands, teils im Westen, teils im Osten, zwischen Flachland und der deutschen Mittelgebirgsregion. In keiner Hinsicht besonders – weder durch die Alpen geprägt noch durch das Meer, die Römer waren weit weg und die Hanse ebenso.

Beim Fragen nach dem typischen deutschen Rotmilan hingegen wird das Bauchgefühl sein – hä? Wieso denn der deutscheste Vogel? Wie kommt man denn darauf? Die Zahlen allerdings sprechen für diese These. Mehr als die Hälfte aller Brutpaare Europas – und damit der Welt – leben in Deutschland. Es gibt keinen anderen Vogel weltweit, bei dem dies der Fall ist. Nur der Rotmilan hat den Schwerpunkt seines Verbreitungsgebietes in Deutschland.

Wenn Deutschland „Anspruch“ auf einen Vogel auf der Welt erheben darf, dann auf den Rotmilan. Auch wenn die Deutschen ihn schon fast einmal ausgerottet hätten. Aber das ist ja auch typisch für das Land hier.

Und die Windräder. Ach. Dazu mehr später. Erst einmal zurück zum „Lord der Lüfte“ wie der NABU ihn nennt.

Trotz extremer Trockenheit dieses Jahr findet der Rotmilan auch weiterhin genug Nahrung bei uns, an den angrenzenden Äckern und Seen. Das ist der Grund, warum ich überhaupt alles über seinen Brutvogelbestand weiß. Des Rotmilans Verbreitungsgebiet zieht sich bis nach Brandenburg hin, sein Schwerpunkt aber liegt im Kleinen zwischen Leipzig und Halle, im Großen aber im östlichen Harzvorland.

Der deutsche Vogel in der deutschen Landschaft. Man möchte innerlich stramm stehen.


Red kite from The RSPB on Vimeo.


Wie beruhigend, dass der eigentliche Vogel keine dieser Gefühle aufkommen lässt. Der schwebt entspannt kreisend über die Felder. Kaum ein Flügelschlag tut not, einfach ein elegantes Schweben.

Die Engländer nennen ihn Red Kite, wobei der Kite ja der scheinbar nur im Wind fliegende (Spielzeug-)drachen ist. Die Franzosen ebenso wie einige andere Sprachen bezeichnen ihn auch als Königsmilan.

Biologen bezeichnen dieses elegante Schweben als langsamen, niedrigen  und  auf  kleinem  Raum  oft  wiederkehrender  Suchflug. Ob er auch herunterstößt und Beute greift? Vermutlich. Nicht jedoch in unserer Gegend.

In Oberhavel


Unsere Datscha ist fast ein Schiff. Nein. Aber es hat eine Terrasse, die leicht erhöht an einem leichten – einem ganz leichten Hang – liegt und den Blick nach unten über die Äcker erlaubt. Ich persönlich fühle mich wie auf dem Deck eines Schiffes, kann die Aussicht über den Horizont genießen. Dort in der Ferne schwebt der Vogel, wahrscheinlich auf dem Weg vom Waldrand im Süden zum See im Osten.



Er fliegt und fliegt. Das ist kein Wunder, denn der Rotmilan jagt nicht im Sitzen – wie der Mäusebussard etwa – sondern ausschließlich im Fliegen. Mal hoch, mal niedrig. In Mitteleuropa ist er heimisch, seitdem es Ackerbau und Viehzucht gibt. Die Jagd im kreisenden Gleitflug eignet sich nicht für Wälder – er benötigt, Wiesen (gerne frisch gemäht), Äcker (gern frisch abgeerntet) und Seen.

Sein Nest wird bestenfalls drei Kilometer weit entfernt liegen, denn das ist eine normale Reviergröße. Das schließt bei uns sowohl Waldrand wie auch vergleichsweise abwechslungsreiche Äcker- und Wiesenlandschaften ein.

Der Vogel zieht – manchmal. Ursprünglich überwinterte er in Südfrankreich, Spanien und Portugal, mittlerweile bleiben relevante Teile des Bestandes auch den Winter über im nördlichen Europa und Deutschland.

Brüten und Jagen


Da kreist der Rotmilan im langsamen Suchflug. Mit etwa einem Kilo Gewicht ist er nicht schwer. Aber doch mit einer Spannbreite von 1,80 Meter – damit mehr als die meisten Menschen, am Himmel sich als eindrucksvoller Flieger abzeichnend. Die rote Farbe, so die Sonne richtig steht, deutlich zu erkennen. Der gegabelte Schwanz ebenso wie der ewig kreisende Suchflug bilden deutliche Erkennungszeichen.

Bild: Red Kite - Scotland. Von: Airwolfhound Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic

Der Milan brütet auf hohen Bäumen. Fressen tut er alles von Feld, Wiese und Teich. Dabei gilt er als „Suchflieger und Aasfresser“ was genau sein Verhalten erklärt, dass wir beobachten können. Er kreist und kreist und kreist. Aber das, was man bei anderen Greifvögeln manchmal sehen kann: Rütteln und Niederstoßen, sahen wir beim Rotmilan noch nie. (*)

Das Rotmilanprojekt der Uni Göttingen beobachtete in kurzer Zeit, dass Junge Rotmilane mit Mäusen, Maulwürfe,  Ratten, sowie diverse Vögel - vor allem jungen, die noch unbeholfen umherflattern - gefüttert werden. Mal gab es einen Frosch, mal einen Fisch, und bisweilen wurden die Sprösslinge der Rotmilane sogar mit Regenwürmern abgespeist.

Besonders den Gärtner wird es freuen, dass Rotmilane große Freunde der Wühlmaus auf dem Speiseplan sind: in guten Jahren besteht bis zu einem Drittel des Jungvogelfutters aus Wühlmäusen. In Schlechten waren es nur 10%. Wenn die Wühlmauslage schlecht ist, sie nehmen alles – auch Aas – und können anscheinend auch größere Knochen verdauen.

Gejagt werden


Und obwohl er riesig ist, ist zumindest der junge Rotmilan nicht sicher. Habichte suchen gerne Nester auf, bei denen sich beide Eltern gerade auf Nahrungssuche befinden, ebenso wie Baummarder wohl gerne einmal zu den Rotmilanen emporklettern. Sonst fallen Rotmilan-Nestlinge Uhus und Adlern zum Opfern, öfter allerdings strangulieren Sie sich mit Erntebindegarn, die ihre Eltern in den Horst einbauten. Die kritische Phase ist hier der April bis Juni. Anfang April beginnt die Brut, die 33 Tage dauert. Die Jungvögel leben dann noch 6 bis 8 Wochen als Nestlinge bis sie flügge werden.

Generell hat ein ausgewachsener Rotmilan keine Feinde mehr außer dem Mensch – der dafür gibt sich immer noch Mühe den Vogel mit Flugzeugen, Autos, Schrotflinten, Windrädern und Stromleitungen umzubringen,

Womit die Menschen eine unrühmliche Tradition wieder aufnehmen. Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts war der Milan durch Bejagung und die damaligen landwirtschaftlichen Chemikalien fast ausgerottet. Die Unter-Schutz-Stellung sorgte zeitweise für eine Erholung.

Gerade die Wende und der massive Wandel landwirtschaftlicher Praktiken auf dem Gebiet der (Ex-)DDR sorgten wieder für einen massiven Bestandseinbruch Anfang der 1990er. So wurden Viehbestände abgebaut – und damit die Grünlandschaften auf denen Heu und Luzernen angebaut wurden,   Monokulturen   mit   verstärktem   Pestizideinsatz   aufgebaut   und   Futterheu   durch importiertes  Soja und  Fischmehl  ersetzt.

An Einzelfaktoren litt der Rotmilan darunter, dass der Feldhamster, ein beliebtes Beutetier in Deutschland, fast ausgerottet wurde. Zum Hungr des Rotmilans trägt bei, dass es kaum mehr offene Müllkippen gibt, auf denen er seine Nahrung finden kann.

Roter Adler


Heimlich hat der Milan es vielleicht doch zum Wappentier geschafft. Ob wie in der Literatur öfter behauptet der „Rote Adler“ des brandenburgischen Wappens wirklich ein Rotmilan sein soll, kann nicht mehr entschieden werden.



Das Wappen stammt aus dem 9. Jahrhundert, die Aufzeichnungen sind unvollständig. Wahrscheinlich ist jedoch, dass der Rotmilan und der „Rote Adler“ für die Brandenburger früh eine Einheit eingingen. Die inoffizielle Landeshymne Brandenburgs mit der Textzeile, „Steige auf Du roter Adler“, bezieht sich mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich auf einen Milan.

Da passt es sehr, dass wir den Rotmilan kreisen sehen über Neu-Vehlefanz, dem Ort an dem Herr Büchsenschütz während einer Übernachtung als Wandervogel tatsächlich diese Landeshymne schrieb.

In Brandenburg leben zurzeit etwa 1300 Brutpaare. Wir hoffen, dass wir unser Paar behalten und weiter über die Felder kreisen sehen. Denn es besteht Gefahr. Diese reckt sich über 100 Meter in den Himmel und kann noch viel höhere Geschwindigkeiten als ein Rotmilan: die Windräder.

Der Don Quixote der Lüfte


Der Rotmilan ist eine Art Don Quixote. Während der Don erfolglos gegen die Windräder anrannte, ohne einen Effekt an diesen zu erzielen, hat die Begegnung für den Milan drastischere Folgen.

Ausgerechnet dieser streng unter Schutz stehende Vogel und elegante Flieger zeigt sich komplett überfordert von Windrädern und kollidiert mit diesen. Das Windrad gewinnt. Kein anderer Vogel wird in Deutschland öfter tot mit eindeutigen Schäden unter Windrädern gefunden.

Bild: Red Kite Von: Airwolfhound Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic


Genaue Zahlen lassen sich kaum ermitteln, da in der Natur nichts wegkommt. Der NABU stellt fest „Großvögel liegen nicht einfach tot im Gelände herum.“ Schließlich hat ein Milan ein Kilo frisches Fleisch, für das sich in der Natur gerne Abnehmer finden.

Wie groß der Effekt der Windräder ist, ist naturgemäß zwischen Greifvogelschützern und Windparkbetreibern umstritten , es gibt jedoch mehrere Studien, die von „populationsrelevanten Auswirkungen“ sprechen. Nicht nur der einzelne Rotmilan ist am Leben bedroht, sondern der Bestand der ganzen Art wird gefährdet.

Schätzungen und Hochrechnungen gehen zurzeit für Brandenburg allein von 300 von Windrädern erschlagenen Vögeln aus, was die Population beeinträchtigt. Das scheint auch das Monitoring in den letzten Jahren zu bestätigen, in denen die Bestände des Rotmilans dort sinken wo vergleichsweise viel Windkraft steht (Nordwestniedersachen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt), dort steigen wo es wenige Anlagen gibt (Mittelgebirge, Baden-Württemberg).

Deshalb kann der Milan, auch anders als der Don Quixote gelegentlich Erfolge gegen die Windräder feiern, indem der brütende Greifvogel in der Nähe, Windparks verhinderte.

Mehr Windräder = mehr Stromleitungen


Hier nun kommen die populationsrelevanten Auswirkungen der Windräder, Teil 2, ins Spiel. Ein genauso großer Gefahrenfaktor für den Milan wie die Windräder an sich, sind Stromschläge an Freilandleitungen. Diese nehmen durch den Windkraftausbau auch zu,

Mehr Windräder = mehr Windradinvestoren


Und dann existieren auch noch die populationsrelevanten Auswirkungen Teil 3: Überraschend viele Horste der Vögel verschwinden, wenn in der Nähe ein Windpark geplant ist. Sei es, dass der Baum gefällt wird auf dem das Nest war und niemand weiß, wer es war. Oder der Baum wurde gefällt und niemand wusste, dass oben ein Greifvogelhorst war. Oder der Rotmilan verschwindet einfach ganz spurlos.

Die Autoren der Studie Verlustursachen bei Rotmilan (Milvus milvus) und Schwarzmilan (Milvus migrans) im Land Brandenburg  zeigen sich schon fast geschockt, wie viele der Todesfälle auf menschliche Nachstellungen zurückzuführen sind. Die Todesfälle durch direkte Verfolgung liegen in der Zahl gleichauf mit den Verkehrsopfern(**).

Nicht zu vergessen, der Vogel, der tot unter einem Windrad gefunen wurde und der Vogel, der bei einer Autokollision starb, die beide bei der Untersuchung dann auch noch Schrotkugeln aufwiesen mit denen sie schon vorher durch die Lande geflogen waren.

Drei Jahre nach dem Verschwunden des Milans gilt noch der Schutzstatus, um seinen Horst, allein um Menschen davon abzubringen, Horste zu entsorgen. Aber drei Jahre sind leider auch eine erträgliche Wartezeit, wenn es um größere Investitionen geht.

Rotmilane zu töten ist strafbar und kann mit Haftstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden. Allerdings liegt die Aufklärungsquote nahe Null. Wie viele verschwundene und erlegte Milane gleich ganz entsorgt werden und so auch nie in den Statistiken auftauchen, bleibt die nächste Frage.

Industrielle Landwirtschaft


Windradkonflikte unbenommen: Den größten Einfluss auf den Bestand hat die Industrialisierung der Landwirtschaft mit der damit einhergehenden Schließung aller Nischen und Lücken für nicht-effizientes Leben. Aber das sieht man halt schlechter als ein Windrad.

Weiterlesen


Die Iberty-Posts zu dem was in unserem Garten noch lebt: Kleintierzoo - die Sammlung.

Noch größer und auch regelmäßig am Himmel: Kraniche.

Ähnlich eidnrucksvoll: Hornissenschwebfliege ungefährlich.

Die Frankfurter Allgemeine brachte vor einiger Zeit (28. September 2014) ein längeres Porträt des Rotmilans. Diemut Klärner: Rotmilan Im Schwebeflug zwischen Wald und Flur.

Mehr zum Thema Rotmilane, Windräder und ihr seltsames Verschwinden, schreibt die taz.

Wer tiefer in das Windradthema einsteigen möchte: es gibt ein Thesenpapier pro Windkraft, das gerne an Lokalpolitiker und andere Entscheidungsgremien verteilt wird. Das kommt sehr wissenschaftlich daher, schafft es aber nicht einmal anzugeben, wer da in wessen Auftrag thesierte:

Richtig tief einsteigen lässt es sich mit einer gut geschriebenen Studie.

Mehr zur Kulturgeschichte des Vogels trug der NABU zusammen.

Davon ausgehend, wer immer und überall zitiert wird, scheint das Standardwerk zum Thema zu sein: Ortlieb, R. (1989) Der Rotmilan. Milvus milvus. Die neue Brehm-Bücherei Bd. 532 Verlags KG Wolf, Nachdruck 2014, 5. Unveränderte Auflage, Magdeburg.

Anmerkungen


(*) Dafür sahen wir mal einen Falken(?), der sich aus heiterem Himmel fünf Meter vor unserem Frühstücksplatz auf einen Staren stürzte, der dort herumsuchten. Wir erschraken uns fast vor sehr wie der Star – immerhin war der geistesgegenwärtiger und schaffte es, dem Greifvogel zu entrinnen.

(**) Die Verkehrsopfer fielen zu mehr als 50% dem Verkehr auf der Autobahn zum Opfer. Auch wenn diese nur einen Bruchteil der Kilometerstrecke im Lande ausmacht. Bei den meisten Toten Vögeln je eingenommener Grundfläche liegt aber der Flughafen Berlin-Schönefeld weit vorne, der mindestens zwei Rotmilane im Untersuchungszeitraum das Leben kostete. Manchmal fragt man sich ernsthaft, was Menschen so treiben. Aus derselben Studie: „Hinzu  kommt  [… ] [e]in Fall,  der  für  illegale  Haltung  sprach:  ein  in der  Natur  gefundener  verhungerter  Rotmilan   mit   eindeutigen   Zeichen   unsachgemäßer  und  nicht  genehmigter  Haltung im  zu  engen  Käfig:  verbogenes,  abgestoßenes,  abgebrochenes  und  bekotetes  Großgefieder.“


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