Nachdem es über 20 Jahre her ist, dass ich mich das erste und letzte Mal zum Kirchentag aufmachte, zog der Kirchentag diesmal zu mir in die Stadt. Ein Grund, ihn mal wieder anzuschauen. Es war in jeder Hinsicht ein lohnendes und inspirierendes Erlebnis mit Digitaler Kirche, Hatespeech, Spontan-Jazzdance-Flashmobs, Neuer Musik und den Blättern für deutsche und internationale Politik.
In der Stadt
Berlin hat gemacht, was Berlin immer macht: kommentarlos und ungerührt Großveranstaltungen schlucken. In der Stadt ging der Kirchentag unter. Hier in Schöneberg sowieso, da musste man schon gezielt in eine Kirche hinein um die Existenz des Kirchentags überhaupt zu bemerken. Aber auch in der Innenstadt (Brandenburger Tor, Unter den Linden, Potsdamer Platz) wirkte es so als wären die „normalen“ Touristen deutlich in der Überzahl.
Selbst am Alexanderplatz, wo das EKBO(Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz)-Areal namens "Zentrum Berlin.Zukunft.Kirche" mit großer Bühne lag, waren die erkennbaren Kirchentagsbesucher eher nicht so viele. Fast ging die Veranstaltung im Berliner Alltagswahnsinn unter.
Familientreffen
Der Kirchentag war für Madame Poupou und mich ein großes Familientreffen. Und zwar nicht im übertragenen bildhaften Sinne, sondern im Sinne von Blut und Verwandtschaft. Relevante Teile der Familie aus verschiedenen Richtungen sind in/bei/mit der evangelischen Kirche engagiert und die trafen sich dann alle hier in Berlin. Wir hatten und haben großes Glück: die Familie aus allen Ecken ist ausgesprochen sympathisch. Und kirchentagsbesonders war dann auch noch, dass sich eben Familie aus verschiedensten Richtungen traf, die sich sonst nur selten sieht. Mir fallen wenige Veranstaltungen ein, die dies möglich machen würden.
Mein Kirchentagshighlight war prompt auch keine "echte" Kirchentagsveranstaltung, sondern das große Familienessen beim Sarden draußen auf der Straße mit Pizza, Rotwein und allem was dazu gehört.
Ein Vorteil der Familie: die Tanten, Cousinen und andere waren bei lauter Veranstaltungen, die ich nicht besuchte und nicht besuchen würde. So hörte ich von Diskussionen mit Frank-Walter Steinmeier, Winfried Kretschmann und Margot Käßmann, den Streitgesprächen zwischen Rabbinern und feministischen Theologen, über Amos Oz, die Klangschale beim Eröffnungsgottesdienst, jüdische Kantoren, Musikgruppen und anderes.
Was das Internet erzählte
Damit war meine Familie deutlich besser informiert und vor allem vielseitiger informiert als das Internet: was ich dort vor allem über Twitter mitbekam: der Kirchentag hatte ein AfD-Zitat aus einer Veranstaltung unter Quellnennung getwittert– jenes Verhalten warfen dem Kirchentag originellerweise genau jene Accounts auf Twitter vor, die sonst jeden AfD-Halbsatz per Twitter um die Welt verbreiten – natürlich nie ohne einen Zweithalbsatz wie empörend das alles ist. Aber zum Thema, ob man Sachen nur zitieren darf, wenn man sich gleichzeitig ausreichend empört, scheibe ich später mal mehr.
Die Stände
Vor allem aber war ich auf dem Kirchentag um selbst zu sehen. Ich war bisher einmal auf einem Kirchentag gewesen. Da war ich vielleicht 16, noch beseelt vom nicht-lange-zurückliegenden Konfirmandenunterricht und noch viel interessierter und neugieriger auf Abseitiges, Seltsames und mir sehr fernliegende Lebensentwürfe. Ich erinnere mich vom damaligen Kirchentag auch nur noch an verschlafene Podiumsdiskussionen, denn ich musste mich erholen von den White-Metal-Konzerten und den sehr zahlreichen und sehr bizarren Gesprächen mit den Standinhabern auf dem „Markt der Möglichkeiten“ - mit der Partei Bibeltreuer Christen, den Jesus Freaks und anderen Vertretern von Freikirchen und Pietcong.
Mein Kirchentag mit 16 Jahren. (Symbolvideo)
Diese Menschen erwartete ich auch 2017 wieder; aber entweder hat sich der Kirchentag verändert oder ich werde älter: Dieses mal fielen mir auf dem "Markt der Möglichkeiten" nur die sehr große Buchhandlung und Stände der Stiftung Denkmalschutz (Dorfkirchen!), der Notfallseelsorge, der taz, der SPD, der Diakonie, von Correctiv und den Blättern für Deutsche und Internationale Politik auf.
Veranstaltungen
Nun sind Stände nett, aber über die taz kann ich mich auch andernorts informieren. Veranstaltungen hingegen sind einmalig und kommen in dieser Konstellation nur je einmal vor. Veranstaltungen sah ich vier: Eine eher bizarre Bibelarbeit (dazu zwei Absätze später mehr), zwei Diskussionen zum Thema Internet und ein Konzert. Zuerst sei kurz das Konzert erwähnt: der Interreligiöse Chor Frankfurt mit dem „Tehillim-Psalmen-Konzert“ mit christlichen, jüdischen und islamischen Vertonung zum Psalm 139. Teilweise europäische Klassik, teilweise „Neue Musik“ mit arabischen Einflüssen, teilweise poppigeres arabisches und verschiedene jüdische Varianten den Psalm zu verarbeiten.
Mir fehlen die passenden Worte um Großartigkeit zu beschreiben und ich bin mir auch sicher: selbst wenn ich Tonaufnahmen des Auftritts oder zumindest des Chors fände, würde das der Großartigkeit nicht gerecht. Verdanken tat ich dem Besuch übrigens der Familie, bei der verschiedenen Mitglieder wiederum aus ganz verschiedenen Ecken sehr der Besuch empfohlen wurde, und das zu Recht.
#smartchurch
Dann Diskussion. #smartchurch. Eine Podiumsdiskussion bei der es irgendwie um Digitale Kirche ging. Eine große Bühne am Alex auf dem EKBO-Areal. Mehrere digitalaktive Menschen aus der Kirche stellten ihre Projekte vor und waren danach noch zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Ein Podium unter anderem mit @ZielKost, twitternde (Ex-)Vikarin (heute Pfarrerin), interaktive Gottesdienste mit Sublan.tv, ein Snapchat-Adventskalender mit Wolfgang Loest, Doreen Gliemann "Internetbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland" und Godspot - das "freie Wlan der evangelischen Kirche". Teilweise sehr coole Projekte und spannende Menschen. Was aber auch auffiel: außer Godspot – dem freien Kirchen-Wlan – sind alle diese Projekte Einzelinitiativen, die institutionell bestenfalls toleriert werden.
Das #Smartchuch-Podium |
Und dann war noch ein Frau vom Uniprojekt "multimediale Dorfkiche da". Thematisch finde ich das schon spannend. Aber ihr verlangt aber nicht wirklich, dass ich einem Vortrag der in dichter Abfolge Ausdrücke wie „Web 4.0, ‚zurückgefeedbacked‘ und „Unser Ziel war ein Projektbuch“ enthielt, tatsächlich zuhöre? Fazit: es gibt gute, fähige Menschen in der Kirche, die spannendes machen. Aber das ist alles von unten und letztlich Einzelinitiativen, die auf viel semiprivatem Engagement beruhen. Auf der Suche nach Projekten von oben oder einer echten instutituionellen Einbindung des Themas - da wird es sehr eng mit der evangelischen Kirche und dem Digitalen.
#onlinepranger
Zweite Diskussion: #onlinepranger, Diskussion zum Thema Hatespeech, Shamestorms und so. In der (eher kleinen) Matthäuskirche auf dem Kulturforum (zwischen Philharomie und Staatsbibliothek), Wir dachten „oh je, Internet, Hatespeech: Popthema. Das wird voll. Lass uns lieber eine Veranstaltung früher gehen.“ Vor den Diskutanten zur Internet-Hate-Speech hatte das Programm „Bibelarbeit mit Luke Gasser“ gesetzt. Luke Gasser - ein uns gänzlich unbekannter Schweizer, um die 50 mit Lockenmähne, angekündigt als Schweizer Musiker und Filmemacher.
Wir schienen recht zu haben. Der Saal war voll, auffallend die vielen Mädchen im besten Instagramm/Snapchat-Alter. Mit Mühe bekamen wir noch gerade einen Sitzplatz. Gasser redete wirr-assoziativ über das Christentum an sich – ich selbst fand es ein wenig belanglos und verschwurbelt, die deutlich bibelkompetentere Verwandtschaft litt sichtlich sehr. Ja, und dann war Gasser fertig, die ganzen Mädchen wollten Autogramme und die Kirche war gähnend leer. Wir staunten: Alternder Schweizer Rockmusiker schlägt im Publikumsinteresse Internet aber sowas von deutlich.
St. Matthäus |
Im halbleeren Saal kam es dann zur eigentlichen Diskussion. Ich legte mich aus dem Publikum heraus ein wenig mit der Diskussionsleitung – Ines Pohl - an, ob es sinnvoll ist zur Veranstaltung einen Hashtag zu haben, und ich einigte mich auf #onlinepranger, da die Veranstalter anscheinend nicht auf die Idee kamen. Später kam ich nicht umhin den Podiumsdiskutanten auch noch teilweise zum Thema Anonymität zu widersprechen, es waar eine sehr schöne Diskussion
Der Philosoph Dieter Thomä ("Demokratie braucht den Störenfried") hielt einen Impulsvortrag; es war ein unterhaltsamer Mensch, der aber nicht soviel Ahnung von Internet hat. Die kurzfristig als Ersatz eingesprungene Eva Högl (SPD-MdB für Berlin-Mitte) hielt sich tapfer. Für Modratorin Ines Pohl war das ganze Internet an sich die ganze Zeit hindurch erkennbar ein wenig suspekt. Aber zum Glück war noch Ingrid Brodnig da. Autorin zum Thema Hatespeech, die ich vor zwei Jahren schon einmal auf der re:publica sah. Und die war richtig gut. Einer der wenigen Menschen bei denen man fast alles blind unterschreiben kann, was sie zum Thema Trolle, Hatespeech und ähnlichem sagt. Lest ihr Bücher, folgt ihr auf Twitter. Mehr zur Diskussion und zum Thema Hatespeech eh wird es in Iberty auch noch geben.
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