2016. Eine Jahreszahl als politische Lagebeschreibung. Es ist seltsam. Fast noch
seltsamer kommt es mir vor, dass es mir alles so bekannt wirkt. Fast
scheint es mir wie eine Wiederholung des Jahres 2000. Damals als Farce in einem
Online-Forum. Heute als Tragödie. Die Beschreibung der Tragödie überlasse ich
heute anderen, und komme zur Farce.
Es war das Jahr 2000. Das Internet war gerade frisch
ausgepackt, neu und aufregend. Ein paar junge Männer aus Aachen hatten eine
Abstimmsoftware programmiert und darum ein kleines Internetspiel
gestrickt: dol2day, Democracy Online today.
Lang ist's her |
Im Jahr 2000 war so etwas aufregend. Die Plattform wirbt immer noch mit "Web 2.0 seit 2000". Der damals erhaltene Grimme-Online-Preis steht weiterhin auf der Startseite. Die Presse
berichtete, einige jüngere Nachwuchspolitiker waren durchaus aktiv (ich
erinnere mich an Alexander Graf Lambsdorff), andere hoffnungsvolle
Jungengagierte (Hallo, Mathias J)
und andere spannende, tolle geistreche Menschen (zuviele nicht dass ich jetzt
ausversehen jemand vergesse) zu Anfangszeiten ließen sich auch Parteizentralen
ködern und schnupperten mal herein, denn CYBER und INTERNET. Der zeitweise existierende "virtuelle Landesverband" der PDS hatte seinen Ursprung auch in diesem Forum.
Dann geschahen zwei Sachen.
Den Communitymitgliedern wurde
das System zu langweilig: sie erkämpften neue Parteien und weitere Unterforen
zur Vernetzung. Vor allem aber entdeckten die NPD und ihre Freunde das Medium.
Die FUN (Abkürzung stand für irgendwas mit Nation soweit ich mich erinnere)
trat auf die Bühne. Und die FUN machte Nazi-Propaganda. Sie machte nicht
nur Propaganda, sie trommelte sie unablässig in dieses Forum hinein. Wo vorher Diskussionen zu Landtagswahlen, Sozialgesetzgebung und Parteivorständen vorherrschten, ging es plötzlich um echte und unechte Deutsche, die jüdische Ostküste, Holocaustleugner etc.
Wenige Punkte brachte die FUN; immer und immer wiederholt. Mit Sachaussagen
dazu, die selten wahr, oft entstellt und sehr oft blind gelogen waren. Aber das
hielt sie nicht ab. Immer und immer wieder. Und alle anderen hatten ein
Problem: so enervierende Propaganda ließ sich nicht ignorieren.
Widersprechen, widerlegen war sinnlos. Dann
tauchte am nächsten Tag noch einmal die nächste Diskussion zu genau demselben
Thema auf. Und wenn man wieder widerlegte, passierte an Tag drei dasselbe. Und
an Tag vier sowie Tag fünf. Dieselben
Unwahrheiten, dieselben Verdrehungen, derselbe Hass. Der Hass, dem es sich nicht
entziehen ließ, denn er war immer da. Dem sich nicht widersprechen ließ, denn
er war davon unbeeindruckt.
Wieviele Menschen wirklich FUN-Accounts bedienten haben wir
nie herausgefunden. Offensichtlich aber war die Zahl der menschlichen Teilnehmer an der Tastatur deutlich
geringer als die der öffentlich auftretenden Accounts. Das war bei dol2day eigentlich verboten, durchsetzen ließ es
sich schwer. Ziemlich schnell hatten die Administratoren aufgegeben. Doppelaccounts und inhaltliche Überschreitungen wurden toleriert.
Vielleicht gab es noch bei offensichtlicher Holocaustleugnung Sanktionen,
Fragen wie „was hälst Du von Ernst Zündel?“ blieben unsanktioniert, auch wenn
sie eine eindeutige Absicht hatten.
Währenddessen nutzten die anderen Doler die Zeit neue
Parteien zu gründen. Neben den Grünen gab es bald auch die Linksgrünen, neben
den Liberalen die linksliberalen, die konservativen Christdemorkaten, die grünliberalen,
Sozialdemokraten, die wahren Sozialdemokraten, die Sozialisten und die
Kernsozialisten, diverse Spaßparteien und die Monarchisten.
Während die „Wahlen“ zum in dol bedeutungslosen Kanzler dann
noch ziemlich lange von wechselnden links/grün/liberalen-Bündnissen oder
nationalistisch-konservativen Bündnissen gewonnen wurden (die Christdemokraten
und Sozialdemokraten hatten sich ziemlich früh in die Bedeutungslosigkeit
verabschiedet), dominierte die FUN den öffentlichen Diskurs.
Jede
Differenzierung, jede Abwechslung, jeder Versuch die Diskussion auf ein höheren
Niveau zu kriegen, ging im Störfeuer unter. Aggressive Energie besiegt Geist.
Den einzigen halbwegs erfolgreichen Gegenpol bildeten die Spaßparteien, die
bestenfalls hintersinnig auf Geist setzen und sonst auch auf emotionalen
Gehalt.
Irgendwann wurde dann auch die FUN gelöscht, aber bis dahin
gab es schon mehrere Anschluss- und Nachfolgegruppen, die entsprechenden
Accounts waren auf dol2day heimisch geworden. Während die Plattform selber das
Problem nicht in den Griff bekam, hatten die meisten User eine einfache Lösung. Sie
gingen. In wenigen Monaten schrumpfte dol2day erheblich und sank auf einen
Kernbestand von Restresidualnutzern zusammen, der dort bis heute durchhält.Waren zu Hochzeiten über 300 doler gleichzeitig online, liegt die Zahl heute oft im einstelligen Bereich.
Die Plattform existiert noch. Sie sieht optisch nahezu aus wie 2000. In der
Sonntagsfrage liegt die AFD mit 40% vor den Grünen mit 17%. Es existieren
von den ehemals 30/40 Parteien mit teilweise mehreren hundert Mitgliedern noch
13 Parteien, deren größte auf 10 aktive Mitglieder kommen. Aktuell beliebte
Umfragen und Diskussionen drehen sich um Trump, Trump, Trump und Le Pen sowie
Bier als soziales Mittel. Immerhin, die Themenwahl ist im Jahr 2016 auf dol2day deutlich weniger nazilastig als noch vor einigen Jahren. Zu den meisten Fragen lassen sich echte Diskussionen führen.
Lehmann von der CKP
(der Christlich-Konservativen Partei) wurde letzte Woche zum 53.
Internetkanzler gewählt. Er gewann in
der letzten Wahlrunde mit 27 zu 26 Stimmen gegenüber .Tochigi von der FPI
(sozial – liberal – ökologisch).
Dol2day existiert noch. Aber es dämmert vor sich hin.
Dol2day 2016 sieht noch so aus wie dol2day 2002, was nun sehr anders ist
als dol2day 2000. Eine in Teilen bereichernde in Teilen verstörende Erfahrung –
umso verstörender, da dol2day langsam aber sicher die Realität aufholt. Mir gab es die
Erfahrung, dass faktenignorierende Aggression resistent gegenüber jedweder
seriösen Diskussion ist. Die Erfahrung, dass selbstverständliche Grundregeln manchmal mit
mehr deutlich Nachdruck durchgesetzt werden müssen als die damalige
Administration aufwenden wollte. Und: den größen Erfolg, gegen Nazi-Lügen hat
man, indem man eigene Geschichten mit mehr emotionalem Gehalt anzubieten hat.
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