Bild: Mi-6 over Neuruppin airbase (East Germany), 1992 Von: Rob Schleifert. Lizenz: CC-BY-SA 2.0
Die Wanderungen entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weitgehend unbekannt kam es in der DDR 1967 zum Versuch, die Wanderungen zu aktualisieren, indem lebende Literaten der DDR noch einmal Brandenburg bereisten und eine Neuauflage der Wanderungen herausgaben – natürlich nicht ohne auf die Verbesserungen und Entwicklungen seit den Zeiten Fontanes hinzuweisen. Zwei Autoren machten sich auf den Weg. Gustav Seyppel, damals noch in West-Berlin lebend, später zeitweise in die DDR gezogen, und Franz Fühmann. Seyppel tat wie beauftragt und veröffentlichte Ein Yankee in der Mark, derjenige, der sein Werk dann nicht schrieb war Franz Fühmann.
Heimatsuche in der DDR
Fühmann selbst war ein mir bis dato zu Unrecht unbekannter Autor. Freiwillig und aus Überzeugung in die DDR gegangen, um dort ein anderes und besseres Deutschland mit aufzubauen. Frühzeitig desillusioniert, später resigniert, gewann er diverse Preise in der DDR (zuletzt der Nationalpreis 1974), veröffentlichte aber auch 1982 mit „Saiäns Fiktschen“ eine der beißendsten Satiren auf die DDR, die je in dem Staat selbst veröffentlicht wurden.
Aber bereits früher begannen sein Zweifel. Der Auftrag für die neuen Wanderungen Buch rührte auch aus dem Verlangen her, einen schwierigen Autoren wieder näher an den Staat anzubinden und ihn zu integrieren. Fühmann reiste zweimal zwei Wochen in die Gegend um Neuruppin – Geburtsstadt Fontanes und angeblich „die preußischste aller Preußenstädte.“
Karwe, Wuthenow, Ziethenhorst
Fühmann besuchte Neuruppin selber, darüber hinaus Orte wie Ziethenhorst, Karwe, Wuthenow und andere, folgte den Spuren der von Knesebecks, des „letzten Ziethen“ und Heinrich Himmlers. Er nahm an der Ausbildung für junge Waldarbeiter teil, besuchte LPGs und deren Mitarbeiter, die ehemaligen Minimax-Werke (damals dann „VEB Feuerlöschgerätewerk“), das örtliche Museum und machte sich vor Ort kundig. Sein Interesse galt dabei weniger Schlössern und Gebäuden, sondern den Menschen und deren Alltag.
Letztlich beschloss Fühmann, aus dem Stoff unter den gegebenen Umständen kein Buch schreiben zu können. Brandenburg blieb ihm fremd, die DDR des Jahres 1968 war nicht der Ort, um eine ehrliche Reportage veröffentlichen zu können.
Aber Fühmann hinterließ Notizen. Viele hundert Seiten, aus denen 2005 Fühmanns Hausverlag Hinstorff ein Buch zusammengestellte. Das Ruppiner Tagebuch (544 Seiten, ISBN 9783356010824) erschien 2005 bei Hinstorff in Rostock.
Es entstand ein faszinierender Blick in das Innenleben der DDR 1967/1968. Speziell: in das ländliche Ruppiner Land. Aus prinzipiell sympathisierender Perspektive, aber ungeschönt; mitgeschrieben, beobachtet und reflektiert. Fühmann gibt lange Gesprächsnotizen seiner Partner in LPGs und anderen Betrieben wieder.
Bild: At Neuruppin the Sukhois came in very low over a public road. Traffic was stopped by lights and a Russian guard. Von: Rob Schleiffert Lizenz: CC Attribution-Share Alike 2.0 Generic
LPG-Kleinkriege
Fühmann schreibt von den Machtkämpfen innerhalb und zwischen den LPGs, von den erfolgreichen und weniger erfolgreichen LPGs – erfolgreichen LPGs , die sich fragen warum sie den Taugenichtsen und Verbrechern etwas abgeben sollen; und den weniger erfolgreichen Betrieben, die versuchen auf die Beine zu kommen. Fühmann schildert das Leben in einem Neuruppiner Landgasthaus (selbst für ihn gewöhnungsbedürftig, auch problematisch, dass es in der ganzen Stadt um 17 Uhr plötzlich nichts mehr zu Essen gibt) und verbringt die Nächte im Waldcamp mit den jungen Forstarbeitern.
Fühmann gibt lange Gespräche mit dem Schäfer wieder (mehrfach ausgezeichnet und als einer der besten Fachleute im Land bekannt), der seine LPG-Leitung, die LPG als Ganzes sowie die Kollektivierung an sich für großen Murks hält, notiert später aber auch die Einschätzung der LPG-Leitung dazu. Selbst in den größten Konflikten gelingt es Fühmann, alle Beteiligten Seiten so darzustellen, dass ihre Position verständlich wird und nachvollziehbar erscheint.
Bäume pflanzen, Luch entwässern
Besondere Sympathie und Mitfühlendes entwickelt Franz Fühmann für die Jugendlichen - besucht im Winter - die in den Wald gehen und dort die Ausbildung durchlaufen – Bäume mitsamt der Wurzeln zum Ausgraben vorbereiten, ihre Stube machen, Bäume pflegen – eine Mischung aus romantischen Pfadfinderlage und militärischem Drill.
Fühmann bereist Ziethenhorst, Karwe und das Kremmener Luch, Ortsnamen, die klingen wir fr Literatur erfunden, die aber zu real existerenden Orten gehören. Er hört sich Geschichten von Melioration und Bodenaufbereitung an, nimmt das Schimpfen über mangelde Blumenkohlanforderungen auf, ebenso wie er die Parks und Gärten der Gegend besucht. Seine Sympathie und sein Interesse gilt dabei aber den Menschen vor Ort. Noch als Notizen und nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sind seine Aufzeichnungen vielfältiger, ungeschönter und weitspannender als es jedes fertige Buch je wäre.
Bild: Neuruppin is a town 50 km north-west of Berlin. The Su-17s of 730th
ABIP must have caused much noise disturbance, as the base was just north
of the town. I took the photo on 17 September 1990, during my first real 'red star
hunt' in East Germany. The fighter bomber wing returned to Russia in
May 1991, but (many of) the aircraft were transferred to Gross Dölln. Von: Rob Schleiffert Lizenz: CC Attribution-Share Alike 2.0 Generic
Leerstellen
Dabei fallen aber auch Leerstellen auf. Neuruppin und Umgebung waren ein großer Standort der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), die im Stadt- und Landbild sehr präsent war. Die GSSD kommt bei Fühmann nur am Rande vor und dann gerne mit dem Hinweis in Klammern „(darf ich nicht schreiben)“.
Fühmann, selbst ehemals Mitglied der Reiter-SA und nicht zuletzt deswegen aktiv im „antifaschistischen Deutschland“, schreibt erstaunlich wenig darüber, was aus den alten Nazis in der DDR wurde. In kurzen Notizen taucht das Thema auf: Immer noch eine gewisse Bewunderung seiner Gesprächspartner für Himmlers Quartier in der Gegend, Gesprächsfetzen, dass die SS doch eigentlich feine Kerle waren, oder Menschen, die erwähnen dass sie Funktionen in der NS-Zeit hatten aber natürlich Antifaschisten waren.
Kurz blitzt es auf, Fühmann führt es auch in seinen Notizen nicht weiter aus. Am mangelnden Interesse Fühmanns, der von sich sagte „über Auschwitz zum Sozialismus“ gekommen zu sein und seiner mangelnden Sensibilität dafür, kann das nicht gelegen haben. Die Gründe für das Scheitern seiner Wanderungen liegen in den Stellen, die er schon in en Notizen kaum zu schreiben mag: das allgegenwärtige Militär und die Präsenz der NS-Zeit, die unter einer dünnen Decke des Antifaschismus noch überall durchscheint. Beides Punkte von denen er weiß, dass er sie im Buch nicht erwähnen kann.
Todesmarsch, Schafzucht
Im Anhang sind dann noch umfangreiche Notizen zu einzelnen Themen – zum Beispiel zu den bekannten Ruppiner Bilderbögen oder zu den Todesmärschen aus dem KZ Sachsenhausen das Ruppiner Gebiet zumindest streiften.
Ein großes Buch. Ein offener, oft sympathischer Blick in das Innenleben der ländlichen DDR 1967/1968. Oft lakonisch, manchmal desillusioniert aber getragen von der Bereitschaft sich auf das Leben und die Menschen dort einzulassen. Enthusiastisch am Beginn und doch voller Zweifel. Mit dem Talent selbst das DDR-Wirtschaftssprech in lesenswertes deutsch zu verwandeln. Und ich lernte viel über Schafzucht.
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