Dienstag, 12. April 2016

Magnolien, Wurzelpeter und rempelnde Jogger

KNORKE: Der gemütliche, mehr oder weniger regelmäßige wikipedianische Stadtrundgang durch Berlin fand auch im April statt. Auch wenn der Frühling zumindest an diesem Tage auf sich warten ließ: es war lausig kalt; ansonsten aber schön: 

Streckenmäßig war es diesmal eher ein Mikro-KNORKE: ein Straßenblock (Wöhlertstraße, Pflugstraße, Schwartzkopffstraße, Chausseestraße) am Rande der historischen Mitte, einst dreiseitig von der Mauer und dem Wedding umgeben, noch früher die Grenze zwischen bürgerlich-militärischem Berlin auf der westlichen Straßenseite der Chausseestraße und proletarisch-linkem Berlin auf deren östlichen Straßenseite. Sitz zahlreicher Fabriken im sogenannten Feuerland und des Garde-Füsilier-Regiments; heute ruhige Wohngegend, eigentlich zentral, doch auch so ein wenig städtebauliche Ödnis, geprägt vom Neubau der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes, der mit "Klotz" noch sehr zurückhaltend beschrieben ist.

Wurzelpeter 10.04.2016 14-11-36
Wegzehrung,

Acht Knorkistas und Gäste trafen sich am U-Bahnhof-Schwartzkopffstraße, ehemals der Geisterbahnhof Stadion der Weltjugend, davor der Bahnhof Walter-Ulbricht-Stadion, und noch davor der Bahnhof Schwartzkopffstraße, um dann sofort in die Seitenstraßen zu verschwinden. Dort bereits die erste Entdeckung in der Wöhlertstraße: eine ungewöhnliche Baumbepflanzung unter anderem mit blühenden Magnolien und einer Haselnuss - diverse Knorkistas meinten, sie hätten tatsächlich noch nie Magnolien als Straßenrandbepflanzung gesehen. Der bestens vorbereitete und gut aufgelegte Aalfons begann in der Pflugstraße mit seinen literarischen Auszügen der zahlreichen jungen Literaten, die es um die Jahrhunderte in den Kiez verschlagen hatte. Ungewöhnlich wie die lebendig die verschlafen scheinende Gegend plötzlich wirkte. Auch wenn die Worte Aalfons die Gegend zum Leben erweckten, auf der Straße selbst herrschte eher dämmrige Ruhe. Selbst das von Jenny de la Torre Castro betriebene Gesundheitszentrum für Obdachlose sorgte durch seine Existenz nicht für mehr Leben, sondern hing auch eher verschlafen in den Seilen.

Dass hier früher mehr Leben herrschte, zeigte sich auch an den Schilderungen zahlreicher Straßenschlachten, die sich hier ehemals abspielten. Während der Teil westlich der Chausseestraße schon lange Militär- und später Polizeigelände gewesen war - demnach in der Weimarer Republik solides Rückzugsgebiet nationaler bis SA-naher Menschen - lebten im Carree Wöhlert/Pflug/Schwartzkopffstraße vor allem die Arbeiter der nahegelegenen Maschinenfabriken. Da ging die Luzie ab. Immerhin davon bekamen wir auch live einen kleinen Eindruck durch den Jogger, der plötzlich wild durch die Führung pflügte, ältere Damen umrempelte und sich in bester Berliner Manier doch noch beschwerte. Was waren das für Zeiten als in Vor-Wende und Kurz-Nachwende-Zeiten fast ausschließlich Polizisten in dem Kiez wohnten und jede Form der Kriminalität oder des Rowdytums komplett unbekannt war.

Aber zurück zu den Literaten: Theodor Fontane statteten wir an seinem Grab noch einen kleinen Besuch ab und hörten die Lebensgeschichte von Peter Hille und einigen zurecht in Vergessenheit geratetenen anderen Literaten. Wir bewunderten neue Luxusbauten gegenüber dem BND und ließen uns von BotBln über den Unsinn aufklären, ausgewachsene Kiefern umpfanzen zu wollen. Unter der Pöschke-Werbung tranken wir Wurzelpeter und gedachten der Friedensfahrt-Teilnehmer, die hier das Friedensfahrt-Etappenende mit einem oder mehreren Likörchen am Werksausschank feierten.

Schließlich fachsimpelten wir noch über Hausnummernklau, die Entstehung des Liedes Lili Marleen an genau dieser Straßenecke, verirrte Touristen an Straßenbahnendhaltestellen und die regionalen Bezeichungen von Spätis beziehungsweise Vergisslichkeitslädchen. Ein kleines Eckchen Berlin mit viel Geschichte und Power. Wie eigentlich immer ein sehr vergnügliches KNORKE - schreibt der Berichterstattende, auch nachdem die Wirkung des Wurzelpeters mittlerweile nachgelassen hat.

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