Deutsches Version dieses englischen Blogposts
Manchmal, wenn ich mich mit anderen Wikipedianern unterhalte, versuche
ich alt und weise zu klingen. Und ich rede über die Zeiten, als es noch gar
keine Wikipedianer gab, und alle Datenbanken liefen auf einem einzigen Server,
der von Hamstern angetrieben wurde. Um in der weiten Öden des IRCs jemand zu
treffen, musste man sich Tage vorher verabreden. Alle Regeln und
Bearbeitungshinweise der Wikipedia, ausgedruckt auf A4, waren weniger als zehn
Seiten lang.
Das waren die Zeiten, in denen ich Menschen erzählte „ich bin bei Wikipedia“. Und
die Antwort war „Ah, ja, ne, is klar, wasauchimmer“ Ich: „Und jeder kann
mitmachen“ - „Ah, ja, ne, is klar, wasauchimmer“. Ich: „Eines Tages wird es
eine freie Onlineenzyklopädie sein“-- „Ah, ja, ne, is klar, wasauchimmer“ Bis
heute vermute ich innerlich immer, dass Menschen so auf Wikipedia reagieren,
und bin jedesmal sehr überrascht, wenn es anders kommt.
So viel hat sich seit 2003 geändert. Beim Schreiben des Blogposts sitze ich in
Hongkong auf der Wikimania. Die Weltpresse interessiert sich dafür, was Jimbo
in einer Rede sagt. Und vor allem: Wikipedia ist tatsächlich praktisch und
taugt als Nachschlagewerk. Wenn ich mich auf fremden Kontinenten mit
wildfremden Leuten über mein Hobby unterhalte, wissen diese Menschen im
Normalfall wovon ich rede. Und viele, viele Menschen interessieren sich stark
dafür, was in Wikipedia steht: Menschen, die niemals auch nur einen Edit
gemacht haben oder machen werden. Tatsächlich, die Erfolgsgeschichte der
Wikipedia fasziniert mich jeden Tag wieder.
Aber natürlich wäre es anmaßend, davon auszugehen, dass Wikipedia an genau
dieser Stelle aufhört, sich weiterzuentwickeln. Es wäre anmaßend davon
auszugehen, dass Wikipedia sich nicht mehr verändern wird.
Was wird im Jahr, sagen wir mal
2022, passieren? Warum versuchen wir nicht einfach mal einen Blick in die Glaskugel?
Die gute
Nachricht: im Jahr 2022 existiert Wikipedia noch. Die schlechte Nachricht:
Niemand weiß davon
Die gute Nachricht: auch jetzt im Jahr 2022 existiert die Wikipedia. Die schlechte
Nachricht: Niemand weiß davon. Durch neue semantische Anwendungen, Wikidata,
Mobile Apps und allerlei andere personalisierte Oberflächen hat es fast niemand
mehr nötig auf die Website zu gehen. Da wo der riesige
unstrukturiert-bleiwüstige Text steht, in dem sich an komischen Stellen
seltsame Bilder befinden. Dort, wo die Auswahl der Bilder immer noch danach
erfolgt, welcher Hobbyfotograf am durchsetzungsfähigsten ist.
Durch eine Menge an Apps und Anwendungen kommt die Information maßgeschneidert
und so aufbereitet, wie sie die Menschen gerade wünschen. Mal wird sie
vorgelesen, mal als Video aufbereitet oder auch in kurzen Textschnipseln auf
diverse Displays serviert. So viele schicke und schöne Oberflächen auf denen
man die Information von Wikipedia genießen kann, ohne in die langweilige und
überladene Enzyklopädie zu müssen.
Viele Menschen tragen mittlerweile auf viele verschiedene Arten bei. Große
Teile der Inhalte kommen mittlerweile durch Partnerorganisationen in das
Wiki-Archiv. Bots plündern die Archive Universitäten, Museen und anderen
Institutionen und laden deren Materialien auf die Wikimedia-Server.
Vielfältige
Menschen (darunter viele Frauen), verarbeiten diese Informationen weiter,
korrigieren sie, versehen sie mit Schlagworten, schätzen sie ein, bewerten sie
positiv oder negativ. Programme und Bots werten diese Interaktionen aus und
aggregieren die Resultate- Daraus kuratieren Programme diejenigen
Informationsschnipsel für verschiedene Leser.
Um Wikipedia herum befindet sich ein großes Archiv an Material, das durch
verschiedenen Methoden ausgewertet und aufbereitet wird. Wikipedia, Aggregation
durch das Schreiben von Text, ist nur eine dieser Methoden. Es ist allerdings
die Methode, die bei Studenten und Bildungsbürgern immer noch sehr beliebt ist.
Um die
tatsächliche Wikipedia bearbeiten zu dürfen, bedarf es mittlerweile des
Master-Zugangs. Der Zugang ist der einzige Zugriff auf dem tatsächlich etwas
kaputt gemacht werden kann, und beispielsweise Inhalte komplett geändert oder
neu strukturiert werden können. Deshalb wurde der Zugang ist in den letzten
Jahrzehnten natürlich immer weiter eingeschränkt. Das Recht, Wikipedia zu
bearbeiten, muss man sich durch fleißiges Helfertum in der weiten Wikversiumssphäre
erst verdienen. Nur einige Freaks, Studenten höherer Semester, ehemalige
Studenten höherer Semester und andernweitig bildungsversesene Menschen besitzen
Können und Wollen, um sich bis dahin vorzuarbeiten. Alle anderen sind
glücklich, wenn sie einfach nur Inhalte beisteuern können.
Nicht sehen
Erinnert Ihr Euch an die Zeit, als man tatsächlich eine echte Website it großen
Textmengen lesen musste? Die Website war irgendwie weiß und sah schon nach
wenigen Jahren so aus, als hätte sie sich aus der Frühzeit des Internets in die
Moderne gerettet. Es hatte einige Bilder fragwürdiger Qualität, die durch die
eigentümliche Wikisoftware ohne jedes Layout quer über die Texte verteilt
waren. Und es gab Text: es gab viel Text. Manchmal war dieser Text gut
geschrieben, oft war er umständlich, unelegant und verlor sich in Details. Auf
der Website stand alles, es war nur manchmal schwer, es zu finden. Je länger
die Zeit fortschritt, desto schwerer wurde es. Der Anspruch, eine Enzyklopädie
für alle zu sein, ging verloren, da viele nicht mehr in der Lage waren, sich
durch die Textberge zu kämpfen.
Das ist vorbei. Heute geben einem Telefon, Auto, Haus, Social Network, Zeitung
und Fußmatte die Informationen, die man gerade benötigt. Der Kühlschrank
bestellt zwar immer noch keine Milch, kann dafür aber mittlerweile dank
Wikiquote die schönsten Zitate über Milch vierstimmig singen. Wobei: eigentlich
geben einem Türmatte etc. nur die Informationen, die man vielleicht benötigen
könnte. Auch nach vielen Jahren der Forschung ist das Targeting plump und
trifft nicht immer. Aber hey, wenn man auf diese seltsame Website geht, ist das
Targeting und das Zusammenehen von gewünschten und gelieferten jetzt auch nicht
der Hit.
In den
Jahren 2014 bis 2018 versuchten die Wikimedia Foundation und einige der
größeren Chapter mit erheblichem Einsatz von Mitteln solche Apps und die dazu
notwenige Software zu programmieren. Aber sie waren viel zu langsam.
Verrückterweise versuchten sie sogar, die Community einzubinden – in einem
Prozess der ebenso undemokratisch wie langsam und ineffektiv war. Die Versuche
aus dem Wikiversum waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, das bestehende zu
bewahren, um wirklich nach vorne blicken zu können. Die Einbindung einer länger
bestehenden Community verunmöglichte jede echte Veränderung. So kamen die
echten Veränderungen durch Player, die weniger Hemmungen hatten.
Als Wikidata
abhob, als Wolfram Alpha in der Lage war, Wikipedia und Wikidata-Informationen
mit netten schönen Bildern und lustigen Filmen zu verbinden, als Google keine
Hemmungen mehr zeigte, Wikipedia nach Inhalte zu durchforsten und diese neu
zusammenzusetzen.. – das waren die Player, die die neuen Apps programmierten
und auf deren Geräten Wikipedia-Inhalte nun zu den Usern kamen.
Da im Jahr
2022 fast niemand mehr die Website besucht, haben natürlich auch die Spenden
nachgelassen. Natürlich bezahlen Wolfram Alpha, Google und Wikiweibo alle
Rechnungen und ein bis zwei nette Kongresse im Jahr – aber natürlich bezahlen
sie besonders gerne für Anwendungen, die ihnen mehr und besseren Zugang zu den
Informationen gewähren.
So jetzt im Jahr 2022 fühlt sich Wikipedia für die moisten Menshcen wie jede
andere Website an. Die meisten Informationsapps suchen sich ihre Daten aus
verschiedenen Quellen zusammen und kombinieren diese ohne Hinweis auf den
Urheber. „Wikipedia lesen“ ist ein fortgeschrittener Kurs an Universitäten. Nur
wirklich neugierige Menschen kämpfen sich durch all die Oberflächen bis zur
eigentlichen Quelle.
Die Website existiert immer noch. Da die Community sich in den letzten Jahren
in Richtung der Neugierigen und Kundigen wandte, sind die Texte mittlerweile
besser geschrieben als im Jahr 2013. Seit 2018 funktioniert sogar die Suche.
Aber trotzdem: Wikipedia, die Website, ist nru für Menschen, die wirklich
wirklich hinter die Kulissen sehen wollen. Das ist keine Mehrheit (oder auch
nur eine erhebliche Minderheit) der Menschheit.
Nichts schreiben
Im Jahr 2015 gab die Wikimedia Foundation endgültig alle Versuche auf, auf die
Community einzuwirken und überließ sie einfach sich selbst. Offizielle Policy
war es nun, die Community nach Möglichkeit zu ignorieren und an Projekten im weiteren
Wikiversum zu arbeiten: keine Versuche mehr, Neulinge anzuwerben, keine
Versuche die Community vielfältiger zu machen, keine Machtkämpfe mehr. Lieber schuf
sie neue und enthusiastischere Communities in der Peripherie des Wikiversums.
Wiki Loves
Monuments zeigte einen Weg, wie man es schaffen konnte, und dank des Visual
Editors und seiner Infrastruktur, konnte die Foundation ihn auch gehen. Die
Foundation erkannte den Irrweg, der darin lag, Newbies den steilen und mühsamen
Weg zuzumuten, sich in eine etablierte Community einzuarbeiten. Einfacher war
es, den Menschen etwas zu geben, mit dem sie einfach Inhalte schaffen konnten,
ohne sich um das ganze Drumherum kümmern zu müssen. Einfach einfach; keine
Streit, kein Aufwand, kein Unfreundlichkeit, keine komplizierten Meta-Regeln.
Die ersten
Apps für “eingeschränktes Bearbeiten ohne das Risiko etwas kaputt zu machen”
waren entwickelt worden, und ermöglichten ganz neue Erfolge im Outreach. Die
allererste war natürlich eine Wiki-Loves-Monuments-App, bei der man nur noch
eine Kamera mit GPS benötigte, und die App alles andere – einordnen,
beschreiben, auf Commons hochladen, in den Artikel einbinden – von selber
erledigte. Was für Denkmale funktionierte, funktionierte dann natürlich in
kurzer Zeit auf für Kunst, Straßenzüge, geographische Objekte, Schulen, Museen,
Autos etc.
Um die
kleinen Fehler zu verbessern, die diese App noch machte, gab es eine weitere
App, mit der Menschen die Fehler korrigieren konnten – nur einmal kurz beim Busfahren
oder aus dem selbstfahrenden Auto die Zuordnungungen überprüfen, Daumen nach
oben oder Daumen nach unten, und schon war der Menschheit ein klein bisschen
geholfen. In Fortgeschrittenen Varianten konnten die User wählen, ob sie ein
Bilder mochten oder nicht, ob es eine gute Illustration war, Inhalte per
Teilnahe an einem Multiple-Choice-Quiz verbessern die Fragen für das Quiz wurden automatisch
generiert und die Antworten eingearbeitet.
Plötzlich konnten wieder große Teile der Bevölkerung an Wikipedia teilhaben,
und Wikipedia – in der neuen Form – wurde ein beliebtes Hobby. Es war möglich
in einer ruckelnden Bahn beizutragen, in der es nur begrenzte Bandbreite gab.
Das gesamte benötigte Vorwissen bestand daraus, ein Bild zu mögen oder auch
nicht zu mögen. Man konnte im Gehen editieren, im Laufen und auch schon fast im
Schlafen.
Schwierig
war es allerdings weiterhin, diese Informationsmassen in enzyklopädische
Inhalte zu übersetzen – einfache Arbeiten konnten Bots erledigen, in
schwierigeren Fällen war die alte aktive Community gefragt, und bei Aufgaben,
die sonst niemand machen wollte, kamen bezahlte Kuratoren ins Spiel-
Die alte Community mit ihren anstrengenden Verhaltensweisen ist mittlerweile
gut hinter mehreren Schichten einfacher,
schöner und gut zu bedienender Anwendungen versteckt. Diese sind motivierend,
intuitiv zu bedienen und bei Problemen findet sich immer eine hilfreiche
Mitarbeitern, die helfen und beraten kann.
In der alten
Community selbst gab es immer noch Konflikte und Rivalitäten. Aber die meisten
Kämpfe waren schon vor Jahren ausgekämpft worden, und wurden jetzt eher aus
Tradition am Leben gehalten, den aus Enthusiasmus. Viele der
diskussionsfreudigen Metawikipedianer hatten das Projekt verlassen und sich auf
fruchtbarerem Boden niedergelassen. Der harte kern der Enzyklopädisten hatte
weniger Interesse am Streit,
Hochladen
Zur selben Zeit wie Wikimedia das Schichten-Modell zum Verstecken der Community
entwickelte, hob die Kooperation mit GLAMS (Gallerien, Libraries/Bücherein,
Museen und Archiven), „neuen Glams“ (Unternehmen) und fast-Glams (alles andere)
ab. Bezahltes Hochladen auf Wikicommons oder Wikisource wurde in vielen
Archiven und Kommunikationsstellen fester Bestandteil der Arbeitsabläufe. So
viele neue Inhalte konnten so gewonnen werden. Die wurden dann erstmal mit Bots
notverarztet, bevor User mit lustigen Webspielen das Feintuning erledigen
konnten.
Fast alle
großen Institutionen haben im Jahr 2022 ihre offizielle Präsenz im einem der
Wikimedia-Projekte. Die Integration geht mittlerweile so reibungslos, dass die
Wikiprojekte ebenso probemlos Informationen der Institutionen einbinden können,
wie diese Wiki-Inhalte in ihre Websiten und Ausstellungen integrieren, ohne
dass es bemerkt wird. Die Glams (neuen Glams, fast-Glams gaben ihre Inhalte und
bekamen dafür das gesamte Wikiversum zurück.
Die ausgewählten Wenigen
Wie also geht es Wikipedia? Ihr geht es gut. In Wikipedia zu editieren, ist
angenehm. Wikipedianer zu sein, ist eine Ehre. Man muss mittlerweile hart
arbeiten, um diesen Status zu erlangen. Die Leute, die sich noch um Wikipedia
sorgen sind meist älter und gebildet und haben ein umfangreiches
Allgemeinwissen. Natürlich macht es weniger Spaß: nicht mehr ganz so viel Brillanz
und Gedankenflüge wie ehedem, weniger Ideen, dafür mehr Routine, Alltag und
Detailarbeiten. Aber die Routine ist entspannter, viele Standards sind etabliert,
ruhige effektive Arbeit in den Tiefen einer gigantischen Wissensmaschine. Als
Wikipedianer lernt man jeden Tag vieles Neue. Es ist gleichzeitig faszinierend
und langweilig. Wikipedia, die Website, hat immer noch eine enorme Bedeutung.
Aber nur noch die wenigsten Wissen, warum eigentlich.
3 Kommentare:
Das Problem, welches ich bei einem derartigen Zukunftsmodell sehe, ist weniger das Erstellen von Informationen, als die Nachfrage nach Daten. Es dürfte kein Problem sein Millionen von Bildern auf commons zu speichern, aber wer wird sie sich ansehen? Ähnlich dürfte das mit Wikidata-Daten sein. Insofern brauchen wir Apps, die neue Nachfrage generieren - das Angebot kommt dann schon.
Dieses Google-Captcha ist ja echt die Hölle..
Der Post erinnert mich ja an meine Dauerforderung, endlich mal Commons-Bilder zu verschlagworten, damit sie jemand wiederfindet.. niemand findet je etwas auf Commons.
Mir scheint bei Wikidata und Google ist da in nächster Zeit mehr zu erwarten.. wobei ich sehr skeptisch bin, ob ich das gut finde. Aber das fragt ja auch niemand.
Ich bin jetzt zufällig über die Langzeitwette in der Wikipedia auf diese Seite gestoßen.
Ich schreibe immer noch Artikel, habe aber keine Ahnung was im Wikiversum (oder wie das momentan heißt) so vor sich geht. Wikipedia fühlt sich weitgehend immer noch so an wie 2013 und ja auch Artikelschreiben ist noch wie 2013 oder 2005. Es hat sich wirklich nur wenig marginales verbessert.
Ob das nun gut oder schlecht ist, keine Ahnung. Zumindest fühlt es sich an, wie der Fels in der Brandung.
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