Samstag, 23. Oktober 2010

Wer braucht Twitter, die Revolution will SPD-Ortsvereine

Tief in meinem Inneren, sehr verschüttet und zum Glück meistens in die Gehirnecke verbannt, in der auch meine Lateinkenntnisse vor sich hin darben, sitzt ein kleiner Leninist und langweilt sich sehr. Nur manchmal, bei gewissen Schlüsselreizen, springt er auf und rappelt herum. Wenn ich kurz nacheinander erst SPD und dann Revolution lese. Dann springt er hervor und jubelt "erschießen", "erschießen", "erschießen."

Den Moment muss ich ihm nachsehen. Nach Jahren des Dunkelns in hinteren Gehirnecken ist er so ein bißchen überschwenglich und neigt zu überschießendem Enthusisasmus. Also rege ich ihn ein bißchen ab, und wir einigen uns auf "organisieren", "organisieren", "organisieren".

Im Vorwärts steht eine lesenswerte Diskussion. Ich wiederhole: Im Vorwärts steht eine lesenswerte Diskussion, zum Thema soll die SPD ihre Ortsvereine abschaffen. Das Pro Abschaffung argumentiert mit der Konsequenz mit der die Partei ihre Ortsvereine vernachlässigt, das Kontra damit "Die Ortsvereine sind die Schaufenster, durch die die SPD und ihre Politik wahrgenommen werden." Leider erklärt das auch, warum die Ortsvereine so darben wie sie darben: wer mag schon die mitbestimmungslose Schaufensterpuppe für die tragische Komödie sein, die sich in der SPD-Zentrale abspielt. Wer mag schon seinen Kopf hinhalten für etwas, was so einfach erkennbar in seiner eigenen Zentralen-Realität gefangen ist, und nur noch sehr schwach etwas mit der Realität eines Ortvsereinsmitglieds zu tun hat.

In Deus-Ex-Machina-Blog wiederum setzt sich Nicander A. von Saage mit der These auseinander, dass S21 erst so durch Twitter möglich gewesen wäre. Das könnte man vielleicht empirisch lösen, indem man die Leute fragt, woher sie kommen, was sie gesehen haben, und nachdem man das dann ergründet hat, wieso Spon und Tagesschau welche Bilder gebracht haben.

Norddeich wolkenberge dunkler
Ein Sturm wird kommen, la la la lala la la la lala la la la la. Ein Sturm wird kommen und meinen Traum erfüllen. Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht.


Nur geht das am Problem vorbei: S21 ist nicht die Tatsache, dass da viele Leute auf einmal hingehen, das allein wäre bedeutungslos. Es ist kanalisierte Wut über ein entfremdetes politisches System, über Entscheidungen deren Sachzwänge in anderen Realitäten stattfinden als die der Bürger. Diese Wut ist da, unabhängig von Twitter. Die Gruppen gegen S21 sind da, schon lange, schon ohne Twitter. Sie haben die Infrastruktur bereitet, die jetzt Argumente liefert, Veranstaltungen organisiert, Redner und Sprecher organisiert, Alternativen vorstellt etc: kurz, die das machen, was in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie ein Ortsverein machen würde.

Twitter kann Erregungskurven antreiben, im Zweifel noch Ort und Datum verbreiten. Wer allerdings meint, dass eine erregte Menschenmenge, die sich von 14 bis 23 Uhr trifft, politisch etwas bewegt, der hält auch das possierliche Berliner Frühjahrsprügeln für den revolutionären ersten Mai.

Die Politik braucht nicht unbedingt SPD-Ortsvereine. Aber sie braucht Organisation. Kontinuität an der Basis, den Willen mal länger als drei Wochen an einem Thema zu bleiben, und den Willen, den Ansatzpunkt zu finden. Das macht oft keinen Spaß, ist anstrengend, gibt nur manchmal ein knackiges 140-Zeichen-Statement ab, ist aber die Grundlage auf der alles andere läuft. 100.000 Menschen auf einem Platz sind nach einem Nachmittag wieder weg. Und sobald sie weg sind, sind sie politisch uninteressant.

(so, und wer bis hierhin durchgehalten und noch Zeit und Energie hat, darf dann auch noch den Gladwell-Artikel lesen, der alles ausgelöst hat. Lohnend.)


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ach klar, kanntest du schon. Wieso musste ich sofort an dich denken, als ich den Gladwell-Artikel gelesen habe? Hier der Teil, wo der Autor auf Wikipedia als Beispiel verweist, für alle faulen Leser. Der vollständige Artikel lohnt sich trotzdem.

"This structure makes networks enormously resilient and adaptable in low-risk situations. Wikipedia is a perfect example. It doesn’t have an editor, sitting in New York, who directs and corrects each entry. The effort of putting together each entry is self-organized. If every entry in Wikipedia were to be erased tomorrow, the content would swiftly be restored, because that’s what happens when a network of thousands spontaneously devote their time to a task.

There are many things, though, that networks don’t do well. Car companies sensibly use a network to organize their hundreds of suppliers, but not to design their cars. No one believes that the articulation of a coherent design philosophy is best handled by a sprawling, leaderless organizational system. Because networks don’t have a centralized leadership structure and clear lines of authority, they have real difficulty reaching consensus and setting goals. They can’t think strategically; they are chronically prone to conflict and error. How do you make difficult choices about tactics or strategy or philosophical direction when everyone has an equal say?"

dirk franke hat gesagt…

Ich würde ja seinen "equal-say" in Netzwerken auch eher für übersimplifizierend halten, aber auch in der ungleichen Machtverteilung haben Netzwerke wohl wirklich den einen Nachteil, dass sie keine verbindlichen Entscheidungen treffen können. Und wie Du zitierst "[problems] reaching consensus and setting goals. They can’t think strategically; they are chronically prone to conflict and error", klingt doch wie eine Livebeschreibung der schlimmsten Wikipedia-Probleme.

Wobei Wikipedia ja mittlerweile nach 6-7 Jahren auch durchaus über strong ties im Gladwellschen Sinne verfügt. Die wiederum spannenderweise in ziemlichem Gegensatz zur alle-sind-gleich-und-alle-machen-mit-düdelü stehen. Wie Gladwell sagt, Strong Ties entstehen nicht von heute auf morgen, und wenn sie erstmal da sind, schließen sie automatisch andere aus.

Karsten Wenzlaff hat gesagt…

Würdest Du den Artikel auch nochmal separat bei uns veröffentlichen?