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Dienstag, 5. Oktober 2010

S21, Spießbürger und Solidarität

Mein persönlicher Eindruck bei Stuttgart 21 ist ja immer noch das Staunen. Staunen, dass die Landesregierung Baden-Württemberg offenbar wort- und symbolgetreu dem Lehrbuch für politisches Scheitern gehorcht. Staunen, dass ausgerechnet ein wilhelmischer Bahnhof die Volksseele zum Kochen bringt. Weiterhin staunen, dass jenes Volk anscheinend das erste mal mitbekommt, dass Wasserwerfer und Schlagstöcke Waffen sind. Neben dieser Einstellung, die ich mal als moderat staunende Linke bezeichnen würde, entdecke ich langsam auch eine entrüstete Linke, die über die Demonstranten entrüstet ist, die...

... anscheinend ernsthaft wütend erscheint, und die Proteste für schlecht hält.

Jürgen Fenn in der Schneeschmelze ist eher rigoros:

"Der Anlaß ist lächerlich. Das Anliegen der Demonstranten ist ein konservatives. ... Das soll „Widerstand“ sein?"

Oliver Herold auf akephalos ähnlich:

"Ein politisches Strohfeuer, welches mit der bürgerlichen Mitte steht und fällt. Ein wenig Neiddebatte hier, ein wenig mehr an sozialem Kahlschlag dort und man wird auch die letzten S21-Gegner abzulenken wissen."

Chris Sickendieck sieht es auf FXMBR in seiner Antwort eher strategisch:

"Die Linke reicht in diesem Tagen der bürgerlichen Mitte die Hand, obwohl diese sich in den letzten Jahren abgegrenzt und mit allen Mitteln versucht hat, den Status Quo zu ihren Gunsten zu verändern oder zu wahren. ... Die Linke hat der bürgerlichen Mitte in den letzten Wochen die Hand gereicht. Gemeinsam geht man gegen den Wahnsinn in Stuttgart vor, ob vor Ort und anderweitig, wie zum Beispiel in den (neuen) Medien. Es wird spannend zu beobachten sein, ob der Handschlag nun angenommen wird oder ob die Hand ausgeschlagen wird."

Nun ja, auch ich habe einen Freund, der ist Marxist, und der würde beim letzten Posting in schallendes Gelächter ausbrechen. Die schwäbische Hausfrau in ihrem Lauf und der Altonaer Asylbewerberfreundeskreis werden nicht zusammenfinden, die Polizei bei der nächsten antifaschistischen Demo problemlos drei Steinewerfer identifizieren können und alle sind beruhigt. Und wo ich bei Zukunftsprognosen bin: die Grünen werden in die Landesregierung kommen und dann sicher einen Sachzwang finden, warum S21 nicht mehr aufzuhalten ist; dafür sind die Signale dann kompostierbar oder so.

Trotzdem geht mir die Entrüstung über die Entrüstung ab. Es ist ein Unding Wasserwerfer und Schlagstöcke zu benutzen, egal wo und gegen wen. Der Bau von S21 hilft den HartzIV-Empfängern auch nicht, niemand - okay, niemand außerhalb der CDU - ist besser dran, wenn die streichenden Schwaben zu Hause bleiben.

Immerhin, auch wenn ich mir andere Anlässe hätte vorstellen können: die Menschen besinnen sich ausnahmsweise mal ihrer demokratischen Rechte und fordern sie ein. Wer einmal einen Polizeieinsatz wie in Stuttgart live miterlebt hat, wird den für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen, und immer eine gewisse Staatsskepsis behalten. Trotz des grassierenden Rechtspopulismus suchen sich die streitenden Stuttgarter niemand Schwächeren, sondern jemand, der tatsächlich Schuld am Geschehen hat. Und selbst der eher peinlichem Umarmung und versuchten Einverleibung durch die Grünen scheint sich die Protestbewegung halbwegs entziehen zu können.

Ich sehe keinen Aufstand der Entrechteten. Aber ich sehe Staatsbürger, die sich ihres Bürgerstatus erinnern, und diesen Einfordern. Es fällt mir schwer, das nicht ganz hervorragend zu finden.


5 Kommentare:

  1. Der Artikel triffts gut, so sehe ich das auch - war damals in Wyhl schon so!

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  2. Also als "wilhelminisch" kann man diesen Bahnhof beim besten Willen nicht bezeichnen. Die Zeit stimmt gerade noch so, aber der Stil ist völlig anders.

    Zu "die Menschen besinnen sich ausnahmsweise mal ihrer demokratischen Rechte und fordern sie ein". Das Schlüsselwort ist "ausnahmsweise". Die Wahlbeteiligung sinkt und sinkt, und wenn überhaupt was, dann haben sie hier in BaWü 50 Jahre lang CDU und FDP gewählt, und jetzt erst, nach zig Jahren Projektvorbereitung, gerade mal drei Monate vor einer Wahl, finden sie raus, dass CDU und FDP scheiße sind? Das hätt ich denen auch früher schon sagen können. Ich finde die Polizeiaktion inakzeptabel, aber empfinde den Protest dennoch als lächerlich und kitschig. Kitschig im Sinne der klassischen Definition, weil der Protest mit Stilmitteln arbeitet, die der Sache nicht angemessen sind. Eine Schweigeminute für einen Bahnhof? Offene Tränen für ein paar Bäume? (Und das in einer Zeit, in der wir uns immerhin im Krieg befinden, in Afghanistan, nicht in Württemberg.)

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  3. Der Krieg in Afghanistan findet in den Medien nicht statt. Täglich kann ich etwas aus Stuttgart aber nichts aus Masar-i-Sharif lesen.

    Das manche Aktionen unsinnig sind in Stuttgart ist die eine Sache. Das das ganze Projekt betriebswirtschaftlicher Unfug für die Bahn ist ein anderer. Mir ist das Bahnhofsgebäude weitgehend egal. Von mir aus könnten die auch ein neues Gebäude von Calatrava etc. hinsetzen. Wie schon in anderen Blogs und Kommentaren geschrieben. Die Politik hat es versäumt die Bürger mitzunehmen.

    Aber vielleicht war es auch so gewollt, weil das Projekt inzwischen so geschrumpft wurde, dass nur noch die Grundstücksvermarktung sinnvoll ist. Der Bahnhof ist halt, das notwendige Überbleibsel. Wenn die Bahn so weiter macht wie bisher, ist sie in ein paar Jahren sowieso zerschlagen und für den wirklich profitablen Gütertransport (im Gegensatz zum staatlich subventionierten Personenverkehr) ist der Bahnhof irrelevant.

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  4. @AndreasP,

    um es mal direkt zu sagen: wenn das Volk als Volk auftritt, hat es vorhersagbar schlechten Geschmack und neigt zum Kitsch. Das kann die Friedensbewegung genausogut wie die S21-Gegner, und die 68er und fast alle Vorhergehenden haben mittlerweile den Vorteil, dass man sich nur noch an eine Minimalzahl penibel herausgesuchter Aktionen erinnert.

    Das stört mich persönlich, reicht aber allein wohl noch nicht für den peniblen Punkt.

    Okay, ich nehme wilhelminisch offiziell zurück. Wobei es mir tatsächlich schwer erscheint, den Bahnhof architektonisch auf ein Wort zu bringen und sich das wilheminische zeitlich anbot.

    Liesel,

    schon allein aus eingehender intensiver Beschäftigung mit den Details, muss ich Dir beim Bahnhof in allem zustimmen. Wobei mir aber weiterhin unklar ist "betriebswirtschaftlicher Unfug bei der Bahn" führt an sich ja eher selten zu Volksaufständen. Ich glaube das allein schafft es auch nicht zu erklären, warum halb Schwaben jetzt an 300 Bäumen hängt.

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  5. Wenn man erfährt, dass einer der Hauptplaner wegen zu großer Gefahren für die Stuttgarter Innenstadt abgesprungen ist und die mit dem Kölner Stadtarchiv versunkenen Archivalien nicht für irrelevant hält, merkt man, weshalb nicht alles, was vor 17 Jahren geplant wurde, heute noch sinnvoll ist. (Der US-Afghanistankrieg soll ja sogar noch jünger sein als die St21-Planung.)
    Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" gilt eben nicht unbeschränkt lange.

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