Vor zwei Wochen lästerte ich noch über die FAZ, deren Recherche zu einem Wikipedia-Artikel daraus besteht, einmal in der Pressestelle anzurufen und ansonsten einen Newsweek-Artikel falsch zu übersetzen.
Diese Woche hat der Spiegel das locker unterboten und den komplett recherchefreien Wikipedia-Artikel erfunden. Naja, Artikel ist jetzt nett gesagt, Elaborat trifft es wohl näher.
Der Artikel erschien gedruckt in Spiegel-Wissen und ist offensichtlich das beste aus dem Archiv der 2004er, 2005er und von gestern. Faktische Fehler finden sich in größerem Maßstab immerhin keine. Was nicht überraschend ist, ist die einzig größere Aussage des Artikels doch "Wikipedia ist ziemlich erfolgreich so insgesamt."
Kuckt man genauer, findet sich dann aber doch einiges an Ungenauigkeiten:
- Jimbo Wales/Bomis hat Wikipedia bis 2003/2004 zumindest teilfinanziert, nicht bis 2002 wie im Spiegel steht. Was aber nicht schwer war, weil es sich nur um drei Server handelte.
- Anders als im Spiegel dargelegt, ist es zwar ungern gesehen, wenn man über sich selbst schreibt, explizit verboten ist dies aber nicht.
- "Egal ob man nach "Faust", "Forelle" oder "Federball" fahndet - der erste Treffer ist stets der entsprechende Wikipedia-Eintrag." - bei mir kommt auf eins Forelle.com.
- Das Stewards "über" Bürokraten rangieren die "über" Admins stehen ist nicht komplett falsch, aber auch nur so richtig wie deutsche Diplomaten über Studienräten stehen.
Diese Zusammenschreibmethode führt dann auch dazu, dass ein Großteil aller Geschichten im Jahr 2005 spielt, als das Spiegel-Archiv anscheinend besonders fruchtbar war. Die deutsche und die englische Wikipedia fliegen im Artikel natürlich auch fröhlich durcheinander, der Leser weiß eher selten bei welcher Sprachvariante der Wikipedia er ist, der Autor wirkt nicht orientierter.
Als Experte vom Dienst muss mal wieder Christian Stegbauer herhalten, der auch mal wieder nicht wörtlich zum aktuellen Thema zitiert wird; sprich dessen Thesen wieder aus anderen Artikeln zusammengekratzt sind. Ein besonderes Schmankerl allerdings stellt der tatsächlich zum Artikel befragte "Experte" da. "Kurt Jansson, einer der Gründerväter der deutschsprachigen Wikipedia"
Das stimmt. Kurt ist das deutsche Wikipedia-Urgestein überhaupt und hat sicher vieles zum Erfolg der deutschsprachigen Wikipedia beigetragen. Trotzdem entspräche es meinem Verständnis journalistischer Ethik zu erwähnen, dass Kurt ein Kollege des Autoren ist und im Büro nebenan sitzt. Vielleicht hätte man auch einfach jemand fragen können, der gar nicht beim Spiegel arbeitet. Es soll etwa 8000 andere deutschsprachige Wikipedianer geben.
Cool Spiegel, einen Spiegel-Redakteur als "unabhängigen Experten" befragt, auf jegliche Recherche verzichtet, und trotz des angestellten Experten dann aus den Archivgeschichten noch lustige Fehler zusammengeschrieben. Das muss man erstmal schaffen.
1 Kommentar:
Recherchefrei war der Artikel nicht. Immerhin hat der Verfasser ins Spiegel-Archiv gesehen und einen äußerst erfahrenen Wikipedianer befragt.
Beides würde mir bei meinen Recherchen für Wikipediaartikel sehr helfen.
Freilich hatte er offenbar den Ehrgeiz, seinen Artikel nicht sichten zu lassen.
Bekanntermaßen ist die Methode des Sichtens in der Wikipedia umstritten, weil sie Nachwuchsautoren abschrecken kann.
Gönnen wir doch dem Spiegel seinen Nachwuchs!
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